Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als die erste Atombombe fiel

Als die erste Atombombe fiel

Titel: Als die erste Atombombe fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
alle, auch die, die gerade aus den Trümmern befreit worden waren, liefen zu einem Unterstand an der Uferböschung. Er war schon voller Menschen. Wir quetschten uns hinein. Während Vater am Eingang stand und das Flugzeug am Himmel beobachtete, brüllte jemand: »Mit Ihrem weißen Hut machen Sie das Flugzeug aufmerksam auf uns. Kommen Sie rein.« Vater ging also auch in den Unterstand.
    Wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, einen weißen Hut aus der Luft zu erkennen. Wahrscheinlich nicht. Es war auch albern, denke ich heute, dass wir Japaner mit Bambuslanzen und -speeren üben mussten und auch übten, Wasser aus kleinen Eimern zu schütten. Ich habe Vater selber mit einer kleinen Lanze, die er für mich angefertigt hatte, begleitet, wenn er am frühen Morgen zum Üben ging. Ich trainierte mit den Erwachsenen. Kein Wunder, dass Japan den Krieg verloren hat.
    Im Unterstand sagten Vater und Mutter zu meinem kleinen Bruder: »Versuche zu stehen. Jetzt geh. Lauf.« Er konnte ganz gut stehen, gehen und laufen. Das Blut auf seinem Gesicht kam von einer leichten Schnittwunde an der Stirn und wir waren erleichtert. Eine Gesichtswunde blutet sehr stark, darum hatten wir zuerst befürchtet, es sei eine ernsthafte Verletzung.
    In dem Moment wurde ein blutüberströmter Mann auf einer Tragbahre vorbeigetragen. Es war ein junger Mann, den wir kannten. Er war wirklich von Kopf bis Fuß getränkt mit frischem rotem Blut. Er hatte aus seinem Fenster auf den Fluss geschaut, als das Haus einstürzte, und er war von der einen Seite des Zimmers über die Uferböschung vor dem Haus auf die darunterliegende Straße geschleudert worden. Er flog durch zwei Fenster, und sein ganzer Körper steckte voller kleiner Glasscherben. Wir sollten jedoch noch viel tragischere Fälle sehen.
    Wir stiegen auf den Hijiyama-Hügel und gingen in einen Luftschutzunterstand. Unterwegs besprengte Vater hin und wieder brennende Dächer und Büsche mit Wasser aus den Wasserbehältern, aber es hatte nicht viel Sinn. Wir sahen viele Leichen auf den Straßen. Mir war übel, und ich mochte nicht hinsehen. Als wir den Hügel hinaufstiegen, nahmen die Toten zu, von denen wir viele gekannt hatten. Tränen liefen mir ununterbrochen über die Wangen. Am Unterstand auf halber Höhe angekommen, ging Vater noch einmal nach unten und kehrte mit einem Eimer Wasser und einer Schöpfkelle zurück. Dabei sah er viele Sterbende, die um Wasser baten, und trotz der Einwände einiger Beamten gab er jedem eine Schöpfkelle voll. Er meinte, dass ein Sterbender so viel Wasser haben sollte, wie er will, weil er mit oder ohne Wasser sterben würde. Ich war völlig seiner Meinung.
    Wenn wir nicht so in Not gewesen wären, hätte ich nie den Mut gehabt, den Unterstand zu betreten: Er war voll gepackt mit Verletzten und Leichen. Es war stockdunkel darin und es roch widerlich nach Blut und verbranntem Fleisch.
    Amerikanische Flugzeuge kreisten noch immer über der Stadt und wir hatten Angst, sie könnten noch eine Bombe abwerfen. Später erfuhr ich, dass die Flugzeuge die Auswirkungen der Atombombe beobachtet haben. Was mögen die Amerikaner gedacht haben, als sie all den Jammer unter sich sahen? Ich denke mir, dass selbst sie, unsere Feinde, ein paar Tränen nicht unterdrücken konnten.
    Wir quetschten uns in die Mitte des Unterstandes, wo wir viele Bekannte sahen. Bald danach starb auf dem Boden neben uns eine Frau, die wir kannten. Es wurde erzählt, dass sie im Arbeitsdienst gewesen sei, als Anführerin ihrer Gruppe. Sie hatte sich furchtbare Verbrennungen zugezogen, als die Bombe fiel. Das Oberteil ihres Strohhutes war weggeflogen, und nur der Rand saß noch auf ihrem Kopf. Sie gehörte zur 16. Nachbarschaftsgruppe, wir zur 17. 14
    Wenn also die Bombe am nächsten Tag abgeworfen worden wäre, hätten einige Mitglieder meiner Familie Dienst gehabt und wären wahrscheinlich umgekommen. Das ist es vielleicht, was man Schicksal nennt.
    Später verließen wir den Unterstand und machten uns auf den Weg zum Haus meiner Tante jenseits des Hügels. Unterwegs sahen wir neben einer Hängebrücke Berge von Leichen. Einige Opfer lebten noch, wurden aber bald unter weiteren Leichen begraben, die man übereinander stapelte. Wenn wir so etwas sahen, versteckte ich mich jedes Mal hinter Mutter. Als wir oben auf dem Hügel angelangt waren, kam ein mit Reiskugeln beladener Lkw, aber niemand aß davon. Wir hasteten den Abhang hinunter. Mutter schien sich an Brust

Weitere Kostenlose Bücher