Als die schwarzen Feen kamen
froh sind!«
Die Stimme des Mädchens verhallte. Die Antwort des Vaters war nur noch ein Rauschen im Wind. Die Stadt verblasste.
Verzweiflung ergriff Marie. Nein, sie wollte nicht fort, noch nicht jetzt! Sie wollte weiter zuhören und sehen, wie die Stadt wuchs und sich mit Leben füllte! Sie versuchte, das Bild festzuhalten, den Mann festzuhalten, der ihr Vater gewesen war, versuchte, in dieser wunderbaren Welt zu bleiben. Doch schon trieb sie wieder davon, bis die Stadt nur noch ein funkelnder Lichtpunkt in der Schwärze war. Ein Lichtpunkt, der langsam größer wurde, der gleichmäßig hin und her schwang, im Takt mit einer Stimme, deren Klang sich allmählich wieder zu Worten formte und die Dunkelheit verdrängte.
» Du kommst wieder zurück«, sagte die Stimme sanft. » Die Schwere verlässt deinen Körper. Du bist immer noch ruhig und entspannt. Dein Geist wird wieder wach und kehrt zurück in die Gegenwart. Alles ist ruhig. Nichts kann dich berühren. Du bist ganz im Frieden…«
Dr. Roth verstummte.
Wie erschlagen blieb Marie auf dem Sofa liegen. Sie fühlte sich noch immer ganz benommen und zugleich unendlich glücklich und tieftraurig. Die Stadt, aus der die schwarzen Feen kamen… endlich wusste sie, woher sie sie kannte. In ihrer Kindheit war sie so oft dort gewesen! Die wunderschöne Märchenstadt aus schwarzem Stein, in die sie sich zurückzog, wenn sie traurig war, wenn ihr etwas wehtat oder wenn sie sich über etwas ärgerte. Sie hatte sie mit ihrem Vater gebaut, nachdem eines Samstags ein heiß ersehnter Ausflug in den Freizeitpark ausfallen musste, weil Marie sich beim Toben den Fuß verstaucht hatte. Damals war ihr die ganze Welt furchtbar düster und ungerecht vorgekommen. Die Stadt, die sie und ihr Vater ersonnen und die sie » Obsidianstadt« genannt hatten, hatte ihr jedoch den Tag gerettet. Ein Ort, an dem sie sicher sein sollte. Ein Ort, an dem immer die Sonne schien und an dem niemals jemand unglücklich war. Marie hatte diese Stadt geliebt, sie hatte dort viele Freunde gehabt und einen Prinzen mit einer Maske, der sie beschützte…
Doch nach dem Tod ihres Vaters war sie niemals wieder dorthin gegangen. Und nach und nach hatte sie die Obsidianstadt einfach vergessen, wie alles, was mit ihrem Vater zu tun hatte, vergraben unter den grausamen Bildern von seinem Tod. Ein dicker Kloß steckte in Maries Hals. Sie wandte den Kopf, um Gabriel anzusehen, der immer noch neben ihr saß und sie aufmerksam und besorgt ansah. Marie lächelte schwach. Er hatte die Stadt auch schon gesehen. Es war die gleiche Stadt wie auf seinen Bildern. Die Stadt aus ihren Träumen. Die Stadt, die nun von den furchterregenden schwarzen Feen bevölkert wurde. Was war nur aus ihr geworden? Wo waren die fröhlichen Menschen, wo waren die Sonne und der blaue Himmel? Wie hatte sich dieser wunderbare Ort so verändern können?
Eine warme Hand legte sich auf ihre Stirn. » Wie fühlst du dich? Alles in Ordnung?« Dr. Roth beugte sich über sie und versperrte für einen Augenblick die Sicht auf Gabriel.
Marie presste die Lippen zusammen und zwang sich, das Lächeln des Therapeuten zu erwidern. » War nicht so schlimm.« Sie richtete sich auf, obwohl ihr Körper sich noch immer schwer und nahezu taub anfühlte. » Eigentlich war es sehr schön. Ich habe meinen Vater gesehen. Und eine Stadt, die ich mir mit ihm zusammen ausgedacht habe. Ich hatte sie einfach vergessen.«
Marie hörte Gabriel scharf Luft holen, und in diesem Moment fiel ihr auf, dass seine Hand die ihre nicht mehr festhielt. Wann hatte er sie losgelassen? Oder hatte sie ihn losgelassen? Anders als der Therapeut wusste Gabriel natürlich sofort, um welche Stadt es sich handelte. Marie warf ihm einen schnellen Blick zu– und sah eine eindeutige Warnung in seinen Augen. Pass auf, was du erzählst.
Marie schluckte. Aber sicher, dachte sie, Gabriel hatte Dr. Roth gerade erst kennengelernt. Er wusste nicht, dass sie ihm absolut vertrauen konnten. Da war seine Vorsicht vermutlich ganz normal.
Der Therapeut setzte sich in der Zwischenzeit zu ihr auf die Sofakante. Von dem Blickwechsel zwischen Marie und Gabriel schien er nichts bemerkt zu haben. » Das ist nichts Ungewöhnliches«, erklärte er beruhigend. » Der Tod deines Vaters war ein traumatisches Erlebnis für dich. Da ist es nur natürlich, dass du vieles, was dich an ihn erinnert, zu deinem eigenen Schutz verdrängt hast. Dazu kommt, dass du damals noch sehr jung warst. Die meisten
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