Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
später erleben. Wenn ich allerdings heute über meinen Stiefvater nachdenke, kommen mir auch diese unangenehmen Episoden von Zeit zu Zeit in den Sinn.
Zurück zu unserer Schule: dort wurde auch vieles umgekrempelt. Die Lehrer kamen meist in ihren Uniformen mit Parteiabzeichen und grüßten uns mit ›Heil Hitler‹. Dazu mussten wir aufstehen und ebenfalls mit erhobener Hand laut und deutlich ›Heil Hitler‹ sagen. Es fiel uns Kindern auf, dass einige der Lehrer nicht mehr anwesend waren. Genaues wussten wir aber nicht. Nur unser Lehrer Herr Schäfer, den wir alle sehr mochten, war nach Angaben seines vorläufigen Vertreters sehr, sehr krank.
Die Jungs aus der Parallelklasse wussten jedoch einiges mehr. Wir hatten zwar getrennte Klassenzimmer, doch kam es auch vor, dass wir zusammen unterrichtet wurden, wenn einer der Lehrer krank war oder aus einem anderen Grund ausfiel. Erst war es ein gegenseitiges Testen, ein schüchternes Lächeln, dann gab es in der Schulpause immer öfter Austausch von brisanten Neuigkeiten. Aber immer war Vorsicht geboten, denn wir hatten auch Klassenkameradinnen, deren Väter große Parteibonzen, wie wir sie heimlich nannten, waren.
So wussten Stephan und Christian einmal zu berichten, dass unser geliebter Lehrer, Herr Schäfer, nicht mehr unterrichten würde. Die Familien der Jungs waren Nachbarn der Lehrerfamilie. Seine Frau, so erzählten sie, habe eine Frühgeburt gehabt. Frau Schäfer war der Belastung und der Trauer nicht gewachsen, sie wurde depressiv und krank und musste behandelt werden. Eines Morgens, so erzählten sie weiter, kam ein grauer Kleinbus zu Schäfers. Die Scheiben waren verhangen, man brachte Frau Schäfer fort. Zwei Wochen später sollte Herr Schäfer ein Schreiben von einer bestimmten Klinik bekommen haben, mit der Benachrichtigung, dass seine Frau an den Folgen ihrer Krankheit verstorben sei. Nach und nach sickerte durch, dass alte und schwer kranke Menschen, Kinder mit Behinderungen oder geistig zurückgebliebene Personen an bestimmte geheime Orte gebracht und getötet wurden. Die legale Grundlage für diese Morde bot das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Ballast-Existenzen nannten die Nazis das.
Inzwischen waren wir etwa 12 oder 13 Jahre alt. Ich war die Jüngste und Kleinste! Beim Turnen, besser gesagt beim Antreten, stand ich als Letzte in der Reihe. Auch war ich nicht so stark belastbar wie meine übrigen Schulkameradinnen, aber ich kam klar. Schwimmen konnte ich gut, wenn auch nicht sehr ausdauernd, ich sprang sogar vom Acht-Meter-Brett, was keine meiner Klassenkameradinnen wagte. Das machte mich ein bisschen stolz.
Außerhalb der Schule waren wir oft zu sechst zusammen, was wir in der Schulpause absprachen. Außerdem machten wir auch abwechselnd die Schulaufgaben bei der einen oder anderen zu Hause. Am meisten gefiel es uns Mädchen, wenn wir bei meinen Großeltern im Gartenhaus sitzen konnten. Großmutter hatte fast immer eine Überraschung für uns. Mal einen selbstgebackenen Gugelhupf oder eine große Schüssel mit verschiedenem Obst. Zum Kuchen gab es Kakao. Dafür bekam ich zum Geburtstag von Tante Hilda ein eigenes Kinderservice geschenkt: kleine Tassen und Teller und eine Kanne.
Am liebsten und besonders oft war ich jedoch mit Gertrud Ganter zusammen. Wir wohnten etwa ein Jahr in der Siedlung, als Gertruds Eltern in der Parallelstraße ein Haus bauten. Es entstanden in der Hauptsache Einfamilienhäuser. Die Bauart war nicht vorgeschrieben, die Häuser konnten ganz nach Gefallen, Geldbeutel und Bedarf erstellt werden. Gertruds Vater war Maurer, ihre Mutter stammte aus einer angesehenen Familie. Der Bruder von Frau Ganter war in Bern Bankdirektor und finanzierte das Haus seiner Schwester. Der Großvater, ein netter alter Herr mit weißem Haar, zog mit in das Haus ein und sollte von Gertruds Mutter im Bedarfsfall gepflegt werden. Ich hatte es nicht weit bis zur Baustelle und konnte mich deshalb fast täglich mit Gertrud dort treffen. Zwischen den Siedlungen und den Neubauten in der Kaminfegerstraße, diesen Namen erhielt sie gleich zu Beginn der Bauphase, wurden Gärten angelegt. Entlang der Gärten lag eine große Wiese mit einem Weg, wodurch ich ganz schnell die Siedlung und das Haus meiner Großeltern vom hinteren Teil aus erreichen konnte. Das Pendeln zwischen unseren Elternhäusern gehörte von Anfang an zur Tagesordnung.
Kurz bevor das Haus von Ganters bezugsfertig war, bekam ich mit, dass im ersten Stock eine kleine
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