Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
ich vier neue Kleider mit auf meine Rückreise. Tante Wilhelmine hatte eine wunderschöne Tuchhose, die sie zum Skilaufen trug. Sie schenkte sie mir, sie musste nur etwas enger gemacht werden. Tante Hilde hatte eine in der Farbe dazu passende kurze Jacke, so entstand für mich ein Anzug, den ich auf der Heimreise bzw. bis Chemnitz trug. Voller Stolz und sicher, darin gut auszusehen.
Es kam doch ein Wehmutsgefühl auf, wenn ich daran dachte, dass die Tage hier gezählt waren. Alle waren sie sehr aufmerksam. Mutter nahm sich, so oft es ging, Zeit für mich. Auch Kurt, der noch in der Rüstung arbeitete und daher noch nicht eingezogen worden war, gab sich viel Mühe, mir den Aufenthalt zu verschönern. Ich erzählte ihm sogar, dass ich auf der Rückreise über Chemnitz fahren würde, zu Erna, und an einem Tag den Frontsoldaten treffen wollte, mit dem ich schon über ein Jahr in Briefverbindung stand. Sein Bild, ich hatte es in meiner Umhängetasche gehabt, dadurch blieb es mir erhalten, zeigte ich ihm und er fand den jungen angehenden Leutnant auch sehr sympathisch.
Kurt wollte nach einer Pause wissen, ob ich über das männliche Geschlecht aufgeklärt sei. Ein bisschen verlegen meinte ich:
»Ja, als ich kürzlich in Meißen bei dem Schularzt mit Hedy war.« Wir saßen in einem Wartezimmer, als der Arzt uns in sein Zimmer rief, in das wir über einen Flur gehen mussten; dort stand ein Wachsoldat mit angelegtem Gewehr. Ein Kriegsgefangener stand völlig nackt daneben mit gesenktem Kopf. Ich war so entsetzt, dass ich wieder rückwärts in das Wartezimmer wollte. Hedy schnappte mich am Arm und sagte streng:
»Komm, mein Mädchen, weiter!«
Wie mag es diesem armen Menschen zumute gewesen sein? Ich musste dauernd daran denken. Kurt sah mich etwas ungläubig an, als er mir erklärte:
»Das meinte ich damit nicht, ob du schon einmal ein männliches Wesen nackt gesehen hast. Diese Aufklärung genügt nicht.« Dann musste ich verneinen. Es war mir einfach unangenehm, gerade mit meinem Stiefvater so ein Gespräch zu führen. Kurt meinte: »Das Sträuben nützt nichts. Das Wissen ist wichtiger, und damit fangen wir jetzt an, ehe du ahnungslos mit den Dingen konfrontiert wirst.« Er erklärte mir zunächst das Allerwichtigste mit viel Sorgfalt und Rücksicht. So empfand ich es nicht mehr so peinlich und stellte sogar Fragen. Nach einer ganzen Weile meinte er: »Na, du glühst ja förmlich. Ich denke, es war für heute mehr als genug. Überlege alles einmal in Ruhe, und wenn du die eine oder andere Frage hast, dann komm zu mir. Das ist besser, als wenn du darüber grübelst und falschliegst. Es hängt zu viel von diesem Wissen ab. Du kennst das Ergebnis, und ich denke mir, dass du nun alt genug bist, darüber nachzudenken, vor allem, dass du nicht in Ahnungslosigkeit unglücklich wirst.«
Das Erwachsenwerden war schon kompliziert. So viel Unwissenheit musste beseitigt werden, so viele Fragen waren zu stellen. Auch Eigenverantwortung war nun gefragt. Alles ein bisschen viel auf einmal.
Im Schnellzug nach Chemnitz hatte ich viel Zeit, über meinen Aufenthalt zu Hause nachzudenken. Es war schön gewesen, alle wiederzusehen. Meine Onkel waren an der Front. Nur Miriams Mann, Onkel Roland, war tagsüber im Atelier und nähte Uniformen. Er war mir gegenüber viel zugänglicher, behandelte mich wie eine Erwachsene und gab mir auch nicht mehr das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Meine Großeltern hätten so gerne gesehen, wenn ich in ihrer Nähe geblieben wäre. Sie meinten, dass ich doch auch hier eine weitere Ausbildung machen könnte. Aber mich zog es trotz aller Fürsorge wieder zurück in die Nähe von Dresden. In dieser Stadt fühlte ich mich vom ersten Augenblick an zu Hause und meine Freunde waren mir wie eine Familie ans Herz gewachsen.
Am späten Abend holte Erna mich am Bahnhof ab. Obwohl der Zug von Kassel mit Verspätung abfuhr, kam ich mit nur einer Stunde Verzug in Chemnitz an. Es war eine herzliche Umarmung, die Freude war groß über das Wiedersehen. Mit der Straßenbahn fuhren wir zu Ernas Wohnung. Es wirkte alles sehr gemütlich bei ihr. Ein runder Tisch war liebevoll gedeckt. Ich fühlte mich sofort zu Hause. Ein Bild von ihrem Mann in Uniform stand auf der Anrichte. Geschmückt mit frischen Blumen. Ich blieb einen langen Augenblick davor stehen und dachte darüber nach, wie es einmal sein würde für alle, die ihre Väter, Ehemänner und Söhne, ihre Brüder und ihre Bräutigame endlich wieder in die Arme
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