Als ich lernte zu fliegen
sie wirklich wahrzunehmen. Lila erkannte keinen Ausdruck darin, weder Angst noch Vorwürfe, noch Zorn. In ihrem Hinterkopf begann ein Gedanke Gestalt anzunehmen, ein Befehl. Hilf!, flüsterte es in ihr, du musst um Hilfe rufen!, du musst nach Mum rufen! Aber Lila blieb einfach stehen, als sich ein anderer, widerwärtiger, verlockenderer Gedanke nach vorn schob – Yasmin könnte sterben. Yasmin würde vielleicht sterben und zu ihrem Heimatplaneten zurückkehren, genau, wie Lila es sich gewünscht hatte. Und dann gäbe es nur noch sie, Asif und Mum, und sie könnten eine normale Familie sein und alles tun, was Lila sich immer gewünscht hatte. Und anstatt sich dieses Gedankens zu schämen, anstatt zu denken, sie hätte sich ihre Wünsche besser überlegen sollen, wenn sie geschrien hatte, ich- HASSE -dich-ich-wünschte-du-wärst- TOT –, keimte in ihr ein ganz anderes Gefühl auf. Lila empfand Hoffnung. Sie war elf Jahre alt, sah ihre Schwester am Boden zucken und wagte zu hoffen, dass sie starb. Sie war ein Ungeheuer. Und schließlich reagierte sie, entsetzt über ihr eigenes Verhalten; sie schrie nicht nach Mum, sie schrie einfach nur, setzte immer wieder neu an, schrie nicht wegen Yasmin, sondern wegen sich selbst, schrie vor Entsetzen, was aus ihr geworden war.
Als Yasmin später mit Mum in der Klinik war und Asif und Lila im Wartezimmer saßen, begleitet von Jilly, der unaufmerksamen achtzehnjährigen Tochter ihrer Nachbarn, flüsterte Lila Asif zu: »Es ist alles meine Schuld.«
»Nein, ist es nicht«, widersprach Asif, der die Sache ganz nüchtern betrachtete. Er war immer noch im Fußballdress, die Beine ragten lächerlich dünn und schlaksig aus den Shorts hervor, die knochigen Knie wirkten fast verlegen, dass sie so zur Schau gestellt wurden. »Die Ärzte sind schuld, sie haben die Epilepsie-Tabletten zu früh abgesetzt.« Asif rutschte in der Sitzschale des Plastikstuhls herum und blätterte eine Zeitschrift nach Interessantem wie einem Kreuzworträtsel oder Cartoon durch, um sich abzulenken. Dieser Klinikbesuch unterschied sich für ihn kaum von den unzähligen anderen Malen, als sie hierhergekommen waren, meist wegen Yasmins Routineuntersuchungen. Sie hatte früher schon epileptische Anfälle gehabt und sie immer gut überstanden, genau wie er seine leichten Asthma-Anfälle immer gut verkraftet hatte und seitdem für den Notfall immer ein Asthmaspray bei sich trug.
»Nein, ich bin schuld«, beharrte Lila. »Ich hab sie umgebracht. Ich hab unsere kleine Schwester umgebracht. Ich stand einfach da, während sie vielleicht am Sterben war.« Bei diesem Geständnis liefen ihr die Tränen übers Gesicht; ansonsten war sie blass und vollkommen beherrscht. Asif sah sie überrascht an; sie schien wirklich zu glauben, was sie da sagte.
»Sei nicht so blöd«, sagte er forsch. »Du hattest Panik, weiter nichts. Das hat Mum auch gesagt, du hattest eben Panik.«
Lila schüttelte den Kopf. »Ich stand einfach da, Asif«, wiederholte sie. »Und hab gedacht, wie einfach alles wäre, wenn sie nicht da wäre.« Sie drehte sich um und überzeugte sich, dass die Nachbarstochter nicht zuhörte, aber Jilly hatte immer noch ihre Kopfhörer auf und wippte mit dem Kopf zur Musik. Als die verheulte Lila sie ansah, lächelte sie dem kleinen Mädchen beruhigend zu und streckte den Daumen nach oben. »Alles klar?«, fragte sie aufmunternd. Lila nickte und wandte sich wieder ab. Eindringlich flüsterte sie auf Asif ein: »Ich konnte nichts anderes denken, als dass alles viel schöner wäre, wenn sie nicht da wäre. Ich bin ein ganz böser, schlechter Mensch und komm wahrscheinlich in die Hölle.«
Asif sah seine Schwester einen Moment lang an und nahm dann ihre Hand. »Jetzt hör mir mal zu, Lila. Du bist nicht schuld. Wahrscheinlich kam es dir nur so vor, dass du so lange dagestanden hast, aber Mum hat gesagt, dass es höchstens ein, zwei Minuten waren.« Er drückte ihr beruhigend die Hand. »Alles wieder gut?«
Lila wurde klar, dass Asif nicht begreifen konnte, was sie gesagt hatte. Er würde es nie verstehen. Er war selbst zu gut, um das Böse in anderen zu verstehen, er ließ das Böse nicht in seine Welt. »Alles wieder gut«, sagte sie und rang sich ein tapferes Lächeln ab. Sie verdiente es nicht, mit Asif auf demselben Planeten zu leben – sie könnte ihn verschandeln. Sie verdiente es auch nicht, mit Yasmin auf demselben Planeten zu leben; sie hatte ihre kleine Schwester verraten, hatte sie weggewünscht.
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