Als ich lernte zu fliegen
Aber Lila wusste, dass ihr niemand glauben würde, und sie bestrafen schon gar nicht. Wenn sie die Sache wieder in Ordnung bringen wollte, musste sie sich selbst bestrafen.
Asif blätterte immer noch in den Zeitschriften, schlug aber nur noch mechanisch die Seiten um, ohne auf den Inhalt zu achten. Er dachte, dass Lila sich endlich getraut hatte, etwas auszusprechen, was innerlich auch ihn belastete, seit er vier war: dass alles so viel einfacher für sie wäre, wenn es Yasmin nicht gäbe. Das könnte er niemals offen zugeben, er war nicht so tapfer oder ehrlich wie Lila, er war ein Feigling, ein Heuchler. Und als Lila sich zwei Wochen später die Pulsadern an einem scharfkantigen Dosendeckel aufschnitt und nach Yasmins sofortigem Anruf beim Rettungsdienst im Höllentempo ins Krankenhaus gefahren wurde, wusste er, dass das kein Unfall war, wie alle behaupteten. Er wusste, dass es im Grunde auch kein Schrei um Hilfe oder Aufmerksamkeit war, wie es die Psychologin beharrlich sehen wollte. Er kannte den Grund für Lilas Tat ganz genau, und die Schuld, die sich mit diesem Wissen auf ihn legte, schnürte ihm seine asthmatische Brust so zu, dass er kaum atmen konnte.
Im Pyjama unter Leuten
In ihrer eiskalten Wohnung pflegt Lila ihren Kater, trinkt immer wieder kleine Schlückchen von ihrem Kaffee. Sie verschwindet fast in dem riesigen alten Streifenpyjama ihres Vaters, in dessen abgenutztem Stoff an den Knien große Löcher klaffen. Sie hat sich die Haare in einem appetitlichen Preiselbeerrot gefärbt und rigoros zu einer wirren Strubbelfrisur gestutzt, eine spontane Aktion, nachdem sie vor ein paar Wochen mit Wes Schluss gemacht hatte. Da hatte der windschnittige Café-au-lait-Stil nicht mehr gepasst, und es nervte sie, dass sie die Haare immer glattföhnen musste. Außerdem war die sengende Hitze des Föhns eine etwas zu große Versuchung gewesen: Manchmal hielt sie ihn direkt an die Kopfhaut und an den Haaransatz, bis die Haut praktisch Blasen warf und der köstliche, langsam abklingende Schmerz ihren heimtückischen Juckreiz kurz betäubte. Dummerweise gab sie zum Zeichen ihrer Rückkehr ins Single-Dasein auch dem Impuls nach, mit Mikey zu schlafen. Der Ausdruck »miteinander schlafen« war fast zu vollmundig für den Hauch von Beziehung zwischen ihnen, denn von gemeinsamem Schlaf konnte nicht die Rede sein. Sie vögelten immer nur hastig im Hinterzimmer des Plattenladens und einmal auch in Mikeys winzigem Mini-Cooper, ein Akt, der nur deshalb im Gedächtnis blieb, weil er so extrem unbequem war. Lila war an Mikey nicht genügend interessiert, um ihn zu sich nach Hause einzuladen, und er tat ihr überraschenderweise denselben Gefallen, was Lila zwar als ziemlich unschmeichelhaft empfand, aber dennoch erleichtert aufnahm. Anfangs war Mikey als Ablenkung völlig in Ordnung gewesen, aber bald fand sie ihn, wenn sie sich über den Schreibtisch im Hinterzimmer beugte und er zum Beat der Musik mechanisch auf sie einstampfte, ungefähr so aufregend wie eine Masturbationshilfe und womöglich noch weniger originell. Die Aussicht auf Sex mit ihm törnte sie gründlich ab, und gestern Abend hatte sie den Job hingeschmissen. Die Sache war endgültig gekippt, als Mikey im Glauben, sie höre nicht zu, vor einem Freund mit ihren »fantastischen Titten« prahlte. Da verkündete sie pampig, sie ginge jetzt und die Zeit ihrer Fickfreundschaft sei vorbei. Er hatte tatsächlich die Frechheit besessen, bei ihrer Wortwahl zusammenzuzucken.
»Fickfreund? Das ist aber echt krass. Kein Grund, es so auszudrücken«, sagte er vorwurfsvoll.
»Sorry, hätte ich ›Fick partner ‹ sagen sollen?«, schlug Lila sarkastisch vor.
»Jetzt sei doch nicht so. Du bist kein Gelegenheitsfick, ich mag dich, Lila«, sagte Mikey wenig glaubwürdig, den Blick mehr auf ihrer Figur als auf ihrem Gesicht.
»Ja, ich hab’s gehört. Du findest meine Titten fantastisch«, erwiderte sie scharf und holte ihren Mantel. »Schick mir meinen Scheck mit der Post, Mikey.«
Nun sitzt sie also hier, und dass sie einen Kater hat, kommt nach den zwei einsamen Weinflaschen gestern Abend vor der Glotze nicht überraschend. Jetzt ist sie ohne Freund, ohne Job und wahrscheinlich auch bald ohne Wohnung, weil sie keine Ahnung hat, woher sie die Miete für den nächsten Monat nehmen soll. »Das war wirklich clever, Lila«, murmelt sie vor sich hin; sie bedauert es nicht, dass sie Wes abserviert hat, doch mit ihrem Chef zu schlafen war ausgesprochen
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