Als ich lernte zu fliegen
warum er ihr das erzählt.
»Hm, da haben Ihre Eltern wohl einiges zu verantworten«, bemerkt Mei Lin, als sie aus dem Fitnessraum schlendern, und ist schon wieder besser gelaunt.
Sie gehen dann doch nicht in die Cafeteria, denn gleich am Eingang entdeckt Mei Lin Rupert. Immer noch in Sportkleidung, hat er sich an einem der vorderen Tische breitgemacht; sein Ohr klebt am Handy, in das er unnötig laut und wichtigtuerisch gestikulierend hineinspricht. »W usst ich’s doch, dass der Mistkerl gar kein Meeting hat«, knurrt sie. »Gehen wir in die Saftbar um die Ecke.« Sie wartet Asifs Antwort gar nicht ab, sondern stöckelt voller Selbstvertrauen davon, daran gewöhnt, dass andere ihr folgen. Asif wiederum ist so daran gewöhnt, dass er im Büro gesagt bekommt, was er zu tun hat, dass er sich nicht daran stößt und ihr kleinlaut folgt, als hätte er sie beschwindelt und nicht Rupert.
»Blöder Hund«, fängt Mei Lin wieder an zu motzen, als sie sich in der bonbonfarbenen Saftbar auf die geschwungenen Stühle setzen. Die Deko ist selbstbewusst knallig, und es wimmelt hier von Mädchen aus der Firma. Asif hatte nicht einmal gewusst, dass die Bar existiert; die Jungs aus seinem Team gehen immer nur in den Pub oder in den Sandwichladen. Mei Lin studiert die Speisekarte mit Biosäften, gesunden Salaten und Suppen. »T ut mir leid, dass ich Sie hierher verschleppe«, entschuldigt sie sich. »Das ist der einzige Ort, wo ich sicher sein kann, dass mir keiner von Stephens ungehobelten Kumpanen über den Weg läuft.«
»Passt schon«, sagt Asif. »Aber eigentlich sollte Rupert sich vor Ihnen verstecken und nicht umgekehrt. Schließlich ist er derjenige, der gelogen hat.«
»Ich kann damit leben, dass er gelogen hat. Aber wenn er mich sähe, dann würde er wissen, dass ich weiß, dass er gelogen hat, und das wäre viel schlimmer. Für mich, meine ich. Es ist ohnehin schon demütigend genug.«
»Ach so, verstehe«, sagt Asif, obwohl er überhaupt nichts mehr versteht. »W as schmeckt hier denn besonders gut?«, fragt er, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und studiert die quietschbunte Speisekarte. Die Säfte versprechen alles Mögliche, von schlankheitsfördernden Eigenschaften bis zur Steigerung der sexuellen Ausdauer. Das reinste Minenfeld, bio hin oder her; zu welcher Schwäche sollte er sich durch seine Bestellung bekennen?
»Keine Ahnung, jedes Mal studiere ich ewig die Speisekarte und bestelle dann doch immer das Gleiche. Den Saft mit Pfefferminz und Ingwer, der mich bei der Friedhofsschicht wach hält«, antwortet Mei Lin.
»W as zum Wachhalten brauch ich jetzt auch«, sagt Asif und bemerkt zu spät seinen Fauxpas. »Auch für die Friedhofsschicht, meine ich, nicht fürs Mittagessen. Aber wir essen wohl nicht, außer, Sie möchten?«
»Nein danke, ich habe von zu Hause ein Sandwich mitgenommen«, sagt Mei Lin zerstreut; sie hängt immer noch zu sehr ihren eigenen Gedanken nach und bemerkt Asifs Gestotter gar nicht. »Blöder Hund«, stößt sie noch einmal hervor.
Asif seufzt und bestellt die Säfte. »Arbeitet Ihr Ex auch in der Firma?«, erkundigt er sich.
»Er tut jedenfalls so, segelt rein, stellt seinen Aktenkoffer ab und fliegt dann davon, rund um die Welt, zu einem weiteren unnötigen Meeting, in die Staaten, nach Südostasien oder Australien und verpestet die Luft mit Unmengen Kohlendioxid. Stephen ist Teilhaber in der Abteilung Wirtschaftsprüfung.«
»Sie meinen Stephen Baden-Ross? Sie sind mit Stephen Baden-Ross verheiratet?«, fragt Asif fassungslos. Baden-Ross ist praktisch eine Berühmtheit, das fotogene Gesicht des Unternehmens, der offizielle Firmensprecher, wenn es im Frühstücksfernsehen etwas aus dem Finanzsektor zu kommentieren gilt; er sitzt im Aufsichtsrat und ist so wichtig, dass Asif ihn in seinem ganzen Jahr in der Wirtschaftsprüfung nie zu Gesicht bekommen hat – zugegeben, er leitet nicht das Ressort, in dem Asif geschult wurde, sondern ein anderes. Mei Lin ist mit Stephen Baden-Ross zusammen? Das klingt für ihn genauso unglaublich wie die Behauptung, eine anonyme kleine Buchhalterin sei mit George Clooney verheiratet. Asif starrt in Mei Lins makellos glattes, ebenmäßiges Gesicht, auf ihre gemeißelten Wangenknochen, und schwebt in großer Gefahr, sie wieder in schwindelnde, unerreichbare Höhen auf ihr Göttinnenpodest zu heben. Da runzelt sie plötzlich die Stirn und sieht ihn so aufgebracht an, dass ihr Gesicht wie bei allen wahrhaft Unglücklichen jeden Reiz
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