Als könnt' ich fliegen
hatte ich die ganze Zeit gewusst, dass Milena nicht wirklich krank war. Aber etwas anderes interessierte mich brennend: »Warum sollte das nicht so bleiben? Ich werde ganz sicher nichts tun, dass es ihr schlechter geht.«
»Ich habe Erkundigungen über dich eingezogen«, sagte Sven.
Erkundigungen? Über mich? Ich konnte kaum ein lautes Lachen unterdrücken.
»Wie bitte?«
»Du hast schon ganz richtig verstanden«, sagte er. »Ich wollte wissen, mit wem Milena es hier zu tun hat.«
»Das hätte ich dir auch beantworten können.« Jetzt hatte ich Schwierigkeiten, gegen das mulmige Gefühl anzukämpfen, das sich mit der Geschwindigkeit eines gefährlichen Computerwurms in mir breitmachte. »Sie hat es mit Tobias Wagner zu tun. Und der ist meistens ein ganz netter Typ …«
»Um es kurz zu machen«, unterbrach er mich, »ich will, dass du meine Schwester in Ruhe lässt.«
Ich war völlig perplex. »Warum das denn?«
»Ich hab nicht viel Gutes gehört über dich«, erklärte er finster. »Ziemlich hoher Mädchenverschleiß.«
»Wer behauptet das?«
»Egal«, meinte er. »Und damit wir uns nicht missverstehen: Von mir aus kannst du Mädchen haben, so viele du willst. Aber Milena lässt du in Ruhe. Wenn du ihr wehtust, brech ich dir sämtliche Gräten.«
Er warf mir noch einen letzten drohenden Blick zu, dann wandte er sich zum Gehen. Ich hielt ihn am Arm zurück.
»Hey, was soll das?« Ich konnte und wollte meine Aufregung nicht verbergen. »Ich hab nicht vor, sie zu verletzen.«
»Ich warne dich«, sagte er finster. »Ich meine es ernst.«
»Ich auch.«
Er riss sich los und ging. Seine Schritte waren so energisch, dass der Sand bis in Kniehöhe aufwirbelte. Ich musste mindestens dreimal schlucken. Hoher Mädchenverschleiß? Ich? Vor der winzigen Geschichte mit Nadine hatte ich zwei Freundinnen gehabt. Falls man das überhaupt so nennen konnte. Aber vielleicht war das, durch Svens Brille betrachtet, tatsächlich schon viel. Ich rannte los wie besessen und stürzte mich noch mal in die Fluten.
12
1. September, Sonntag, 16 Uhr
Inzwischen hab ich wirklich Bauchschmerzen, aber das Tagebuch ist nicht gelöscht. Und natürlich habe ich auch den PC nicht aus dem Fenster geworfen.
Meine Eltern denken, ich müsste den ganzen Tag für die Schule arbeiten. Ich hab mich hier eingegraben, als sei das tatsächlich so. Die meiste Zeit starre ich mein Handy an. Ich hab Angst, dass Tobias zurückruft. Gleichzeitig wünsch ich es mir. Je mehr Zeit vergeht, umso größer wird der Wunsch und umso kleiner die Angst. Aber er ruft nicht an. Was soll ich nur tun? Nach dem komischen Telefonat vorhin kann ich ihn doch nicht einfach noch mal von mir aus anrufen. Er ist mit Sicherheit stocksauer. Und das zu Recht.
Aber selbst wenn: Was sollte ich sagen? Mir geht’s plötzlich wieder besser? Spontanheilung? Ein Wunder ist geschehen? Geht alles nicht. Schon deshalb nicht, weil kein Wunder geschehen ist! Ich kann ganz unmöglich mit ihm an den Strand. Ich bin so ein Esel. Ich hasse Esel. Ich hasse mich selbst. Ich hasse mein Bein.
Als ich wieder aus dem Wasser kam, ging es mir kein bisschen besser. Sven hatte mich nicht nur bedroht, sondern auch bestätigt, dass Milena gar nicht krank war, was mir wesentlich schlimmer erschien als die Drohung, denn die erledigte sich damit praktisch von selbst.
Zuerst hatte ich geglaubt, dass die Ausrede mit ihrem Bein zusammenhing. Aber je länger ich drüber nachdachte, umso mehr zweifelte ich. Und allmählich wurde ich immer sicherer, dass ihr Grund ein ganz anderer war: Sie wollte nicht mehr mit mir zusammen sein. So einfach war das. Und weil sie mich nicht direkt vor den Kopf stoßen wollte, gebrauchte sie eine Ausrede. So wie tausend andere das auch getan hätten. Warum sollte sie in dieser Hinsicht etwas Besonderes sein?
Ich spürte, wie sich langsam Wut in meine Enttäuschung mischte. Um mich abzureagieren, spielte ich eine Runde Volleyball. Aber das half auch nicht. Meine Wut wurde immer größer. Warum war sie nicht ehrlich zu mir? Und warum hatte sie mir noch gestern vorgespielt, Wunder wie verliebt zu sein? Irgendwie passte das alles nicht zusammen, aber die Fakten waren klar.
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Björn, der mit mir zu unserem Platz gekommen war. Warum war er nur so verdammt einfühlsam? Er kam mir fast schon vor wie mein Vater.
»Hör auf zu nerven!«, fuhr ich ihn an.
Björn ließ sich nicht beeindrucken.
»Der Typ vorhin«, sagte er, »das war doch Milenas
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