Als könnt' ich fliegen
entschlossen erlebt zu haben.
13
2. September, Montag, 16 Uhr
Eins steht fest: So halte ich das nicht aus. Tobias und ich, wir haben die ganze Zeit in der Schule nicht miteinander gesprochen. Es ist okay, wenn er nichts mehr von mir wissen will. Jedenfalls wundert es mich nicht. Aber dann soll er es mir wenigstens sagen. Wir können doch nicht einfach so tun, als sei überhaupt nichts gewesen.
Lisa meinte, vielleicht sei das alles gar nicht so schlecht. »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.« Das hat sie echt gesagt. Den Spruch kannte ich bisher nur von meiner Oma.
Obwohl ich natürlich genau wusste, was sie meinte, hab ich gefragt, was das denn in diesem Fall wäre: ein Schrecken ohne Ende. Da meinte sie nur, ich solle mal drüber nachdenken, und hat dazu ein Gesicht gemacht, das kannte ich so noch nicht mal von meiner Oma. Blöde Kuh!, wollte ich sagen. Aber in Wirklichkeit dachte ich nur, dass sie natürlich Recht hatte. Man braucht ja nur mal nachzulesen, was ich selbst gestern noch in dieses blöde Tagebuch geschrieben habe. Ich konnte mich selbst nicht leiden.
Auf dem Schulhof, gleich vor der ersten Stunde, wollte ich zu ihm gehen. Da hatte ich noch den Mut. Aber schon als er mich von Weitem gesehen hat, hat er sich abgewandt und ist weg.
Danach hab ich es nicht wieder versucht. Wir sind uns den ganzen Vormittag aus dem Weg gegangen. Irgendwann hab ich mir ein Herz gefasst und Björn gefragt, ob er weiß, was eigentlich los ist. Aber der hat nur die Schultern gezuckt und gesagt, er würde sich da raushalten. Dann war er verschwunden. Spätestens morgen muss irgendwas passieren. So viel steht fest. Gerade klingelt mein Handy.
Ich erwachte mit Kopfschmerzen. Da ich erst ab der zweiten Stunde Unterricht hatte, frühstückte ich allein mit Marlies. Sie war Lehrerin mit halber Stelle an einer Schule, an der Erzieherinnen ausgebildet werden, und musste oft erst später hin. Mein Vater und Ilka waren schon aus dem Haus.
Marlies hatte Brötchen gekauft, was mich sehr wunderte. Eigentlich war sie der klassische Müslityp. Leider hatte ich ausgerechnet an diesem Morgen überhaupt keinen Hunger. Ich setzte mich nur zu ihr an den Tisch, weil ich Zeit hatte. Und Durst. Ich schenkte mir ein riesiges Glas Orangensaft ein. Marlies beobachtete mich, als ich es gierig leerte. Sie aß ein Körnerbrötchen und trank Tee.
Ich spürte, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Ein paarmal schien es, als wolle sie jetzt etwas sagen, tat es dann aber doch wieder nicht. Mit den Fingern pulte sie etwas Teig aus ihrem Brötchen.
Ich fand, dass sie für ihr Alter noch ziemlich gut aussah. Sie hatte die Haare hinten zusammengebunden. Ihre Züge waren klar und offen. Was das Aussehen betraf, hatte mein Vater guten Geschmack bewiesen. Zum ersten Mal erkannte ich auch ihre Ähnlichkeit mit Ilka. Ich schenkte mir noch ein halbes Glas Orangensaft nach. Glücklicherweise verkniff Marlies sich jeden Kommentar zu meinem Durst und dem offensichtlichen Vitaminmangel.
»Keinen Appetit?«, fragte sie nur. Ich schüttelte missmutig den Kopf.
»Was ist das mit Ilka und dir?«, fragte sie dann. Ich musste an einen etwas überhasteten Bungeesprung denken. Von jemandem, der Angst hatte, sich sonst überhaupt nicht mehr zu trauen. Sie schaute mich an. Sie hatte nussbraune Augen, exakt die gleiche Farbe wie ihr Haar.
»Nichts ist da«, knurrte ich, »gar nichts. Das ist vielleicht das Problem.« Ich wollte aufstehen. Sie legte eine Hand auf meinen Arm.
»Bleib noch einen Moment«, sagte sie. »Bitte.«
Ich blieb tatsächlich sitzen. Sie besaß etwas, was mir bisher entgangen war. Eine schlichte, aber wirksame Überredungskunst. Wenn sie meinen Vater in diesem Stil nach dem Zusammenziehen gefragt hatte, dann war mir jetzt klar, warum er unsere Zweisamkeit geopfert hatte.
»Und?«, fragte ich. Ich bedauerte, dass es nicht mehr halb so mürrisch klang wie zuvor.
»Wenn da nichts wäre«, sagte sie, »dann würde ich dich nicht drauf ansprechen. Das wäre vielleicht nicht schön, aber es wäre okay. Aber es ist so viel … Energie zwischen euch.«
Ich wusste, dass sie leicht esoterisch angehaucht war, aber das hier ging mir dann doch zu weit.
»Energie«, wiederholte ich ironisch. Ich machte Anstalten, erneut aufzustehen. »Sonst noch was?«
»Warum redest du nicht mit mir?«, fragte sie. Ich sah ein paar Fältchen neben ihren Augen. Die machten sie nicht hässlicher. Sie unterstrichen nur ihren freundlichen
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