Als Mrs Simpson den König stahl
um wieder zu
Atem zu kommen, sei es, um sich die Schnürsenkel zu binden, ließ sie oft gute fünfzig Meter hinter ihren Vordermann zurückfallen. Von Zeit zu Zeit blieb auch der König stehen, um sich die Schnürsenkel zu binden, und alle mussten warten, bis er damit fertig war. Wenn er einen Knoten im Schnürsenkel hatte, verweilte er länger, und während dieser Intermezzi konnte Evangeline den Abstand zu ihren Gefährten wieder aufholen. Jeder gab sich die größte Mühe, dem König nicht auf den Hintern zu starren, der, wenn er sich unbefangen über seinen Schuh beugte, hoch in die Luft ragte. Trotz der Wohltat, die die widerspenstigen königlichen Schnürsenkel boten, war Evangeline, die sich, um Halt zu finden, ängstlich schnaufend an Büscheln wilden Thymians festklammerte, stets erleichtert, wenn man nach Stunden endlich einen zerfallenden Tempel erreichte, eine Zuflucht vor der Mittagshitze und dem grellen Licht. Aber diese antiken Bauten waren schwer erkämpfte Marschziele, und schon bald befand sie, dass die Stille der leeren Jacht eine viel verlockendere Alternative war.
Einmal schob sie eine Seekrankheit vor. Diese Ausrede wirkte Wunder, da sie sich mit ihrer Hilfe einem angstbesetzten Badeausflug entziehen konnte. Bei einer anderen Gelegenheit führte sie eine bis dahin geheime Leidenschaft für Puzzles an und verdammte sich zu einem frustrierenden Vormittag, an dem sie nichts anderes tat, als Hunderte von seltsam geformten blassblauen und weißen Holzteilchen anzustarren und sich der unmöglichen Herausforderung zu stellen, den Wolkenhimmel eines Impressionisten nachzubilden.
Evangeline wollte noch aus einem anderen Grund allein sein. Sie hatte bemerkt, dass die Atmosphäre, die zwischen Wallis und dem König herrschte, immer angespannter wurde. Wallis war oft ungeduldig und kritisierte ihren liebeskranken Verehrer, der immer dichter um sie herumschwebte, als würde bei der leisesten Verstimmung die Erde unter ihren Füßen nachgeben. Er tat alles Erdenkliche, um Wallis gefällig zu sein, stimmte ihr zu,
holte alles Mögliche für sie herbei und erweckte den Eindruck, als wären die Rollen von König und Untertan vertauscht. Evangeline versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Natürlich war Wallis keine »Untertanin«, und vielleicht war genau das der springende Punkt: Respekt. Dieser wurde weder verlangt noch gezollt.
Alle anderen, selbst diejenigen, die er zu seinen engsten Freunden zählte, behandelten den König mit einer Ehrerbietung, die sie keinem anderen lebenden Menschen bezeigten – alle bis auf Wallis. Das Merkwürdigste an ihren Kritteleien war nicht etwa, dass der König ihr Benehmen fraglos hinnahm, sondern vielmehr, dass er offensichtlich Gefallen daran fand. Je tyrannischer sie wurde, desto mehr schien er es zu genießen. Die Art, wie sie mit ihm sprach, hatte etwas Schulmeisterliches und erinnerte Evangeline daran, wie eine Mutter ein ungeratenes Kind behandelt. Hatte Königin Mary etwa nie die Zeit gefunden, ihren ältesten Sohn zu disziplinieren? Oder lag die Erklärung womöglich bei seinem Vater, George V ., der dem Vernehmen nach Wert auf eiserne Disziplin gelegt und die sanfteren mütterlichen Instinkte seiner schüchternen und leicht verängstigten Frau verdrängt hatte? Wie auch immer, ihr ältester Sohn, mittlerweile in den Vierzigern, schien endlich eine Variante jener mütterlichen Bindung gefunden zu haben, nach der er sich so lange gesehnt hatte.
Worin auch die Erklärung für die Befremdlichkeit ihrer Beziehung bestand, Wallis wirkte mit jedem Tag nervöser. Evangeline fragte sich, ob nicht bald eine Art Belastungsgrenze erreicht wäre. Falls ja, so waren die Anzeichen nicht besonders erfreulich anzuschauen. Ein Dutzend Mal hatte sie sich gewünscht, Julian oder auch nur May wären da, damit sie mit jemandem reden könnte. Lady Diana schien zu merken, dass sich etwas zusammenbraute, aber Evangeline wagte es nicht, das Thema anzuschneiden. Lady Diana war nicht gerade jemand, mit dem man ungezwungen plaudern konnte. Außerdem hatte sie sich
vor Kurzem eine Mandelentzündung zugezogen und war ans Bett gefesselt.
Manchmal, wenn die anderen an Land und außer Sicht waren, zog Evangeline ihr Sommerkleid aus und legte sich, ohne Gefahr zu laufen, gesehen zu werden, in ihrem geflickten Badeanzug aufs schattige Deck und wälzte derlei Gedanken hin und her. Bisweilen nahm sie ihre drückend heiße Perücke ab und warf sie auf den Stuhl neben sich, wobei sie zugleich
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