Als Oma bist du ja ganz nett: Wie meine Mutter ein Enkelkind bekam (German Edition)
jahrelangen Kindererfahrung immer noch ganz groß ins Tragebusiness einsteigen.
Tatsächlich ist Stefan ein ausgewiesener – wenngleich nicht zertifizierter – Trageexperte. Er kann weinende Babys nicht nur stundenlang auf und ab tragen, er hat unsere Kinder auch viele, viele Male morgens zum Kindergarten und nachmittags nach Hause getragen. Er ist ebenfalls ein ganz großartiger Kind-auf-den-Schultern-Träger, und seine ausgefeilte Technik, mit einer Hand ein Kind und mit der anderen einen Kasten Mineralwasser in den vierten Stock zu tragen und dabei noch ein Liedchen zu pfeifen, durfte ich jahrelang bewundern. Wie er das gemacht hat, habe ich ihn nie gefragt – es schien mir selbstverständlich. Aber offenbar wissen Eltern heute nicht mehr, wie sie ihr Kind hochheben und durch die Gegend tragen können. Wieso eigentlich?
Es ist die kulturelle Kluft zwischen dem bis ins Letzte ausgetüftelten Plan, einerseits ein oder zwei Kinder zu bekommen – und andererseits der medial und gesellschaftlich befeuerten Selbstwahrnehmung als Eltern, dieses so unglaublich kostbare und verantwortungsvolle Projekt so perfekt wie möglich ins Werk zu setzen. Ein Kind hat man nicht, ein Kind managt man. Und richtig getragen werden muss es auch. Schade eigentlich, dass es dafür keine TÜV -Plakette gibt, mit Hauptuntersuchung und allem Drum und Dran.
Pädagogisch, gesundheitlich und kulturell soll alles sichtbar perfekt laufen in diesem Land, in dem das öffentlich transportierte Mutterbild trotzdem noch immer irgendwo in den Fünfzigerjahren stecken geblieben ist. Zugleich jedoch sollen Mütter und Väter ihre Elternzeit und danach die Kinderbetreuung möglichst kostenneutral sowie klag- und geräuschlos organisieren. Der Staat, der sie ständig auffordert, die Generationenlücke zu füllen, hält sich beim konkreten Teil, nämlich dem Monetären, gern mal zurück. Abenteuerliche Betreuungsschlüssel, ungenießbares Schulessen, ausufernde Kitaferien – dies alles sind bedrohliche Ungetüme aus dem Wörterbesteckkasten einer Gesellschaft, in der Kinder zwar zum Höchsten stilisiert werden, deren Eltern aber wenig Unterstützung erfahren.
Kein Wunder, dass diese Gemengelage Eltern schier verrückt macht. Und zwar offenbar so verrückt, dass sie fremden Frauen Geld geben, damit diese ihnen erklären, wie sie ihr Kind tragen sollen. Dabei hat das – Tragen oder Getragenwerden – doch nun wirklich jeder Mensch im Programm.
Vor Jahren besuchte ich beruflich eine sogenannte Babymesse. Ich freute mich auf den Termin, schon wegen des irreführenden Titels. Aber natürlich wurden dort in den weitläufigen Hallen nicht Babys zur Schau gestellt, sondern jede Menge Equipment für Eltern und Kinder. Ich sah strassbesetzte Kinderwagen und quietschbunte Familienvans. Ich begutachtete Fläschchenwärmer und Babybetten, Dinkelkissen und Krabbeldecken. Ich befingerte Kinderbekleidung, die den Schluss nahelegte, die sie erwerbenden Eltern müssten sich selbst stilistisch auf das Niveau von Kleinkindern zurückentwickeln.
Und ich sah Tragetücher und Babytragen sonder Zahl. Sie lagen auf Tischen bereit, hinter denen sanft lächelnde Frauen Platz genommen hatten, die Interessierten gern ausführlich die Vorteile der aufwendigen Konstruktionen nahebrachten. Egal, ob es sich bei den dargebotenen Waren um Tücher oder Säcke, um Bauchläden oder Jacken mit integriertem Babyfach handelte – stets hießen sie »System«. Denn systematisch, gar wissenschaftlich auf dem neuesten Stand soll sein, worin Kinder verwahrt und befördert werden. Jedes Tuch hat seine eigene Bindetechnik, jede Babytrage hat die Anmutung, als könne man damit bequem einen Sechstausender besteigen. Wie vertrackt die Technik ist, sieht man ganz genau an warmen Tagen auf dem Spielplatz, wo Männer und Frauen die kostspieligen Systemseilschaften an ihren Hüften herabbaumeln lassen, was mitunter den Eindruck erweckt, hier habe jemand sein medizinisches Korsett falsch herum angelegt.
Schaue ich mich auf den erstaunlich vielen Trageberatungsseiten im Netz um, müsste eigentlich mit Geldstrafe belegt werden, wer seinem Baby nicht die korrekte Anhock-Spreiz-Haltung angedeihen lässt. Denn diese ist nicht nur gut gegen spätere Haltungsschäden. Nein, korrektes Getragenwerden beugt auch Depressionen vor und fördert den Gleichgewichtssinn, es hilft gegen Koliken und schafft Selbstvertrauen. Ich hingegen bin noch im letzten Jahrhundert sozialisiert und befürworte deshalb Geldstrafen
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