Als schliefe sie
durch die Nägel zerspringt, die das reflektierte Licht bereits zersplittert haben.
Milia will aus ihrem Versteck unter dem Sofa herauskommen, will den Mann davon abhalten, den Spiegel zu zertrümmern. Sie weiß, dass zerbrochene Spiegel im Traum ein böses Vorzeichen sind. Sie robbt unter dem Sofa hervor, befindet sich plötzlich unter freiem Himmel. Es ist dunkel, sie wittert Gefahr. Sie weiß nicht, wo sie ist. Doch sie weiß, dass vor ihr ein Tal liegt. Sie rührt sich nicht von der Stelle, glaubt, die Dunkelheit könnte sie verschlingen. Von dem Gehämmer bekommt sie entsetzliche Kopfschmerzen. Sie will schreien, will Mûsa rufen, hört sich stattdessen aber Mansûr rufen. Erschrocken legte sie die Hände auf den Mund, um den Mann nicht zu wecken, der zusammengerollt neben ihr schlief.
»Wo bist du, Bruder?«
Die Stimme des Mädchens verliert sich in der Dunkelheit. Milia beschließt, die Augen zu öffnen. Auf keinen Fall darf der Traum weitergehen. Auf keinen Fall will sie in ihrem Haus einen zerbrochen Spiegel sehen. »O Gott, das könnte vielleicht heißen, dass Mansûr seinem Bruder folgt und stirbt. Dann leben wir zwei Witwen unter einem Dach mit der Alten. Was soll ich allein? Und der Junge? Womöglich töten sie ihn, nachdem sie seinen Vater getötet haben. So war es schließlich auch bei dem Messias. Erst haben sie seinen Vater, Josef den Zimmermann umgebracht, verschleppt oder wie auch immer. Und dann haben sie Jesus gekreuzigt.«
»Hör bitte auf, Nägel einzuschlagen, Bruder.«
Sie sieht sich aus dem Bett steigen und barfuß in den dâr gehen. Das Haus ist in Dunkelheit gehüllt. Ein schwacher nächtlicher Lichtschein dringt durch das Fenster. Die kleine Milia tritt auf die Splitter am Boden. Blutspuren in Form plattgetretener Schmetterlinge bleiben auf den Fliesen zurück.
Der Spiegel hängt noch an der Wand. Sie will Gott danken, dass der Traum es nicht geschafft hat, den Spiegel zu zertrümmern. Aber plötzliches Unbehagen befällt sie, und sie hat das Gefühl, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Sie sieht das eigene Bild. Es hängt im zitternden Licht, das aus dem Spiegel dringt. Das Bild, das Mûsa in dem größeren der beiden Häuser im Lîwân an die Wand gehängt hat, genau über dem Bett, in dem sie geboren wurde, taucht plötzlich auf. Das Weiß ist von Schwarz überlagert. Nur die geöffneten Augen sind noch deutlich zu erkennen. Alles andere ist mit schwarzen Flecken übersät. Nase, Lippen, Kinn, Stirn. Auch das lange Haar, das sich einst wie ein schwarzbrauner Fluss durch den Hintergrund schlängelte, ist nicht zu sehen.
»Wo sind ihre Haare?«, fragt sie leise.
Sie schaut sich um, sieht Mûsa. Er sitzt auf dem Sofa, unter dem sie sich versteckt hatte. Den Tarbûsch seines Vaters auf dem Kopf und einen schwarzen Rosenkranz in der Hand.
»Wo ist der Rosenkranz her, Vater?«
Sie nennt ihn »Vater« und wartet die Antwort nicht ab. Denn sie weiß, dass der Mann, der auf dem Sofa sitzt und das Bild im Spiegel betrachtet, nicht ihr Vater, sondern ihr kleiner Bruder ist, dem sie früher immer die Furcht vor der Dunkelheit mit einer zarten Berührung aus den Augen gewischt hat.
»Was machst du hier in Nazareth?«, fragt sie.
»Ich komme den Jungen holen«, sagt er.
»Nein, das ist mein Sohn. Ich lasse nicht zu, dass du ihm das Gleiche antust wie dein Vater dir, als du ihm zu der Ägypterin gefolgt bist. Ich lasse nicht zu, dass du ihn mit einem Stein zu erschlagen versuchst.«
Warum verschwimmen die Menschen derart ineinander? Das ist nicht ihr Vater. Sie weiß es, weil er einen olivenfarbenen Teint hat, Jûsuf dagegen eher weißlich blass ist. Aber warum kommt er den Jungen holen, der noch nicht einmal geboren ist? Und warum schlägt er Nägel in den Spiegel? Milia hört das rhythmische Gehämmer der Kreuzigung. Am meisten habe Jesus in den letzten Momenten seines Lebens, so der libanesische Mönch, unter dem Lärm gelitten. »Als man ihm die Nägel in Hände und Füße schlug, ist das Klopfen zu einem Donnern angeschwollen. Sein Körper schien zu zwei riesigen Ohren geworden zu sein, die jeden leisesten Laut auffingen. Alles dröhnte. Stell dir vor, wie es ist, wenn das Herzpochen den Brustkorb sprengt. Die Kreuzigung, mein Kind, ist das unerbittliche Gehämmer, das durch den ganzen Körper dröhnt. Rufe in ein Tal und lausche. Stell dir vor, dein Körper ist das Tal, in dem Hunderte von Nägeln kreischen.«
Mûsa ist wieder ein kleiner Junge. Nun muss sie sich zu ihm
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