Als schliefe sie
zum Bild. Ja, genau dieses Bild habe ich gesehen. Kurz nach ihrer Geburt. Und drunter stand der Satz ›sondern sie schläft‹. Genau der gleiche Satz, der jetzt dort geschrieben steht. Lebensecht und zum Greifen nah habe ich alles gesehen. Aber ich habe es nicht verstanden. Herrgott, wieso nicht? In Schwarz war es geschrieben. Und die Nonne hat den Satz unter dem Bild vorgelesen.«
Einmal im Lîwân angebracht, blieb das Bild unangetastet hängen. Entfernt wurde es erst, als Mûsa das Haus niederreißen ließ, um an seiner Stelle ein neues zu bauen. Das alte Haus trug Milia im Geiste mit nach Galiläa. Immer begleitete es sie. Im Wachzustand und im Schlaf. Der Geruch hafte ihr deutlich in der Nase, sagte sie zu Mansûr. Jeden Morgen rieche sie es. Das alte Haus, bestehend aus zwei Gebäudeteilen, war auf einem Sandhügel mit Ausblick auf einen Abhang unterhalb des Erzengel-Michael-Klosters. Drumherum im Garten standen Paternosterbäume, deren duftend grünes Laub Mücken und anderes Ungeziefer fernhielt.
Das Haus war ursprünglich kleiner. Als Jûsufs Vater, Salîm Schâhîn, es kaufte, bestand es aus einem geräumigen dâr 6 , nebst einem durch Bogengang und Glasfenster abgetrennten Lîwân. Hinzu kamen eine kleine, dunkle Küche und ein Bad am Ende des Flurs, der von der Küche in den Garten führte. Im Garten stand ein gewaltiger, dreistämmiger Feigenbaum, an den Mûsa und Milia eine Schaukel mit Holzsitz hängten, um in den Himmel abzuheben.
Erweitert wurde das Haus, als Jûsuf heiratete. Auf Saadas Drängen sah sich der Jungvermählte gezwungen, ein Schlafzimmer, ein Esszimmer und ein Bad anzubauen. Aus Beton hochgezogen, wirkten die neuen Räumlichkeiten wie ein separater, willkürlich an das ältere Gebäude aus gelbem Sandstein gesetzter Komplex. Die Decke des älteren und gleichzeitig größeren Teils bestand aus Holz, gedeckt mit Erde und einer dünnen Schicht weißem Kalk. Der neue Teil hatte ein Betondach. In dem alten Haus herrschte im Sommer eine luftige Kühle und im Winter eine angenehme Wärme. Im anderen dagegen war es sommers heiß und winters kalt. Die vier Jungen schliefen in dem Betonhaus. Milia wohnte im Lîwân, anfangs zusammen mit den Eltern, später, nach dem Tod des Vaters, nur noch mit der Mutter. Diese Aufteilung der Familie erfolgte nach dem Tod der Großmutter. Davor hatte Großmutter Hasîba den Lîwân gemeinsam mit den Kindern bewohnt. Als sie starb, beschloss Saada die Karten neu zu mischen. Sie wies den Jungen das Betonzimmer zu und zog mit ihrem Mann in den großzügigen Lîwân. Milia ging leer aus. Deshalb bot ihr Saada einen Schlafplatz im elterlichen Zimmer an. Mûsa aber bestand darauf, dass Milia entweder neben ihm oder auf der kleinen Couch im Jungenzimmer übernachtete. Sie selbst richtete sich am liebsten auf dem Esszimmerboden eine Matratze her. Tatsache war, dass sie nirgends ihren Platz hatte. Hin- und hergerissen zwischen Sofa im Jungenzimmer und Eisenbett im Lîwân, zog sie nachts heimatlos mit ihren Träumen umher. Gelöst wurde das Problem letztendlich erst mit dem Tod ihres Vaters. Denn da bekam sie sein Bett.
Als Jûsuf starb, war Milia neun Jahre alt. Nikola und Abdallah übernahmen das Geschäft. Salîm, der älteste Sohn, studierte zu der Zeit Jura an der französischen Saint-Joseph-Universität. Und Mûsa, der Jüngste, besuchte die Sankt-Elias-Batîna-Schule.
Drei Tage nach dem Tod ihres Vaters hatte Milia einen Traum. Beim Anblick des leblos aufgebahrten Vaters verstummt sie. Wortlos lauscht sie dem Klagen und den rätselhaften Äußerungen der Frauen.
»Seine Geliebte ist da!«, ruft eine.
Sie steht inmitten einer Gruppe schwarzgekleideter Frauen, die sich, weiße Tücher schwenkend, um den Leichnam im Lîwân scharen. Mit der »Geliebten« ist sie gemeint. Das weiß sie auf Anhieb. Was eine »Geliebte« aber zu tun hat, wenn ihr Liebster stirbt, das weiß sie nicht. Ihre Knöchel knicken um, sie fällt hin, liegt am Boden. Immer wieder ist ihr dieser Traum erschienen. Zwei Knöchel knicken um, ein Mädchen bricht zusammen. Eine Nonne kommt hinzu und hängt die Kleine an die Wand. Milia sieht sich selbst. In ein weißes Tuch gewickelt, von zwei Händen in die Höhe gehalten. Dann fällt sie.
Milia schafft es nicht, sich ihrem Vater zu nähern und seine geschlossenen Augen zu betrachten. Sie schafft es nicht, weil sie zusammenbricht und sich ein Brandgeschmack in ihr ausbreitet. Der gleiche Geschmack taucht später wieder auf, als sie sich im
Weitere Kostenlose Bücher