Als schliefe sie
besorgniserregend, sondern auf die Schwangerschaft zurückzuführen. Sobald Milia ihr erstes Kind zur Welt gebracht hätte, so versicherte er, würde sie auch wieder aus der Nachtwelt herausfinden.
Milia trat aus dem Hotel hinaus in Garten und Sonne. Der Schnee hatte etwas von weißen Inseln zwischen den grauen Bäumen. Eine kühle Brise wehte. Beharrlich kämpften sich die Sonnenstrahlen durch die Wolken am Himmel. Mit Licht und Luft spülte Milia den Traum fort. Während sie durch den Garten spazierte, spürte sie, wie sich ihr Becken rundete. Alles an ihr war auf einmal rund und heiß. Sie setzte sich auf den Rand des kleinen Bassins, tauchte die rechte Hand ins kalte Wasser. Augenblicklich war die Hitze in ihren Fingern erloschen. Ein eisiger Schauder kribbelte ihr den Arm hinauf in die Schulter und in die Brüste. Unvermittelt kündigte sich schmerzhaft die Milch an. Milia sah Milch aus ihren Brüsten quellen, sich Tropfen um Tropfen zu Fäden verbinden. Tränen schossen ihr aus den Augen, rannen auf den üppigen Busen und verschmolzen mit der Milch.
Als Milia vier Jahre alt war, stellte die Familie eine Haushalthilfe ein. Hanna aber blieb nur kurz. Denn Schwester Mîlâna nahm sich der kranken Saada an, heilte sie, indem sie ihr ein mit heiligem Öl getränktes Stück Watte gab und drei volle Tage und Nächte an ihrer Seite im Lîwân wachte. Saada sei wieder gesund, hieß es. Aber das war sie nicht.
»Sie ist ein anderer Mensch geworden«, erklärte Jûsuf der Nonne und erntete damit nur tadelnde Blicke und ein unmutiges Räuspern.
»Schäm dich, Jûsuf!«, wies sie ihn zurecht.
Plötzlich erwachende Scham stieg in Jûsuf auf und schwebte wie ein Glorienschein über seinem grauhaarigen Kopf, sichtbar für all seine Kinder. Zeitlebens verfolgte ihn die Gloriole und verflog erst mit seinem Tod. Als er aufgebahrt dalag und die Söhne sich über ihn beugten und ihm einen Kuss auf die Stirn gaben, sah Milia, wie sich der Lichtkranz auflöste. Friedlich schlafend trat er die letzte Reise an – zu seinem Kollegen.
»Er ist dein Kollege, Herr Jesus Christus!«, rief Saada schluchzend, als man den Toten in den Sarg bettete.
»Schäm dich, so etwas zu sagen!«, schimpfte die Nonne.
»Aber er ist ein Schreiner, und Jesus war auch Schreiner«, rechtfertigte sich Saada.
»So etwas sagt man nicht! Jesus liebte Fisch und war Fischer«, sagte die Nonne streng.
»Aber er war auch Schreiner«, widersprach Saada. »Gott vergebe dir, Jûsuf! Wie konntest du mir das antun und mich verlassen! Grüße meinen Vater von mir.«
Den letzten Traum ihres Vaters hat Milia nicht gesehen. Dass er ihr im Traum erschienen sei, war erfunden. Mit Schreinerwerkzeug in der Hand, so erzählte sie allen, sei er Seite an Seite mit einem gutaussehenden, vollbärtigen Mann in eine schwarze, den Tag verdunkelnde Wolke geschritten. Sie sei an ihn herangetreten, wollte ihn küssen, brach aber zusammen und wurde von der Nonne aus dem Zimmer getragen.
»Du solltest dich schämen!«, wies die Nonne Jûsuf zurecht und gab Saadas Genesung bekannt.
Keiner wusste, was Saada für eine seltsame Krankheit hatte. Kaum setzte sie morgens einen Fuß auf den Boden, wurde ihr schwindlig, sodass sie gleich wieder ins Bett zurücksank. Dann rief sie ein leidendes »aua!«, und sofort stand einer ihrer Söhne bereit und half ihr auf die Beine. Sich an der Wand entlanghangelnd, wankte sie in die Küche. Endlich dort angekommen, bekam sie Gleichgewichtsstörungen und erbrach sich.
Aus diesem Grund wurde Hanna ins Haus geholt. Doch sie blieb nicht lange. Denn Saada erholte sich dank Schwester Mîlânas Wundertaten bald wieder. Und damit war Hannas Anwesenheit überflüssig. In Wirklichkeit aber war Saada noch immer krank. Zwar kam sie wieder eigenständig aus dem Bett. Den Haushalt aber schaffte sie nicht mehr. Deshalb übernahm Milia diese Aufgabe. Sie erledigte alles. Kochen, Wäschewaschen, Putzen.
Die Krankheit, so erzählte sich die Familie, sei nach Jûsufs Tod aufgetaucht beziehungsweise durch diesen ausgelöst worden. Als Jûsuf starb, war Milia neun Jahre alt. Und vier Jahre war sie alt, als Hanna zu ihnen kam. Wie dem auch sei. Jedenfalls erfinden Familien ihre Geschichte und glauben daran. Eines zumindest steht fest. Zur Chefin des Hauses wurde Milia erst, als ihr Vater nicht mehr lebte. Lange Jahre war sie davon überzeugt, dass ihre Mutter durch Jûsufs Tod erkrankte. Doch nun meldete sich unverhofft Hanna aus den Rissen der Erinnerung zurück.
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