Als schliefe sie
Allein im Hotelgarten auf dem Beckenrand in der Sonne sitzend, die Hand ins Wasser getaucht, um die glühenden Finger zu kühlen, kam ihr plötzlich Hanna in den Sinn. Milia sah alles wieder deutlich vor sich. Sah, wie Hanna unter dem Olivenbaum gesessen hatte und weinend ihre entblößten Brüste knetete, sodass Milch herausquoll und ins Gras tropfte. Hanna war klein und rundlich, sie hatte ein helles, breites Gesicht, eingesunkene Augen unter buschigen Brauen und wulstige Lippen. Sie hatte die Brüste gerade zurück in das weite schwarze Kleid gesteckt, als sie Milia entdeckte, die in einiger Entfernung dastand, sichtlich verstört. Hanna hatte die Vierjährige zu sich gewunken, worauf diese stolpernd näher kam.
Sie vermisse ihren kleinen Sohn, hatte Hanna schluchzend gesagt.
Milia hatte nichts von Hannas zusammenhanglosen Satzfetzen verstanden. Unwillkürlich hatte sie die Flucht ergriffen, auf dem Weg ins Haus gespürt, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Und nun, die Hand im Wasser, auf den Lippen ein scheues Lächeln, versuchte sie die Erinnerung an jene Frau aus dem Dorf Dschâdsch bei Byblos zu rekonstruieren. Hanna hatte so manches erzählt. Von einem Kind, das drei Tage nach der Geburt starb. Von einem Ehemann, der aus dem Dorf verschwand. Von zwei Brüsten voll Milch.
»Mein Busen tut weh«, hallte Hannas heiser dumpfe, wie aus unergründlicher Tiefe dröhnende Stimme in Milias Ohren nach. »Möchtest du die Milch probieren?«
Nein, so war es nicht gewesen.
Hatte Hanna sie wirklich so etwas gefragt? Milia wusste es nicht. Eines aber wusste sie genau. Ihr war das Wasser im Mund zusammengelaufen. Gleichzeitig hatte eine plötzlich in ihr aufsteigende Angst sie zur Flucht bewogen. Hatte sie von der Milch gekostet? Wieso haftete ihr so ein süßlicher Geschmack unter der Zunge? Jener Geschmack, der ihr jedes Mal, wenn sie auf Nadschîb wartete, aus den Brüsten auf die Lippen gestiegen war?
Seither traute sich Milia, wenn sie Hanna mit dem Rücken zum Haus unter dem Olivenbaum sitzen sah, nicht mehr in den Garten.
Was hatte es mit Hanna auf sich? Weshalb hatte die Nonne sie aus dem Haus gejagt?
Immer wieder erschien ihr im Traum jenes Bild. Eine Frau mit gewaltigen Brüsten und im Hintergrund Jûsufs dunkles Gesicht mit gierig nach der überquellenden Milch schielenden Augen. Was hatte sich zugetragen? Milia wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass Hanna aus ihrem Dorf nach Beirut gezogen war, dass sie als Dienstmagd bei ihnen im Haus gearbeitet hatte und dass ihr einziger Sohn drei Tage nach der Geburt gestorben war.
Der Junge, so hatte Hanna erzählt, war blond. Nur drei Tage habe er gelebt. Plötzlich standen ihm die flaumweichen Haare wie Stacheln vom Kopf ab. Da wusste sie, dass er tot war.
Aber weshalb hat die Nonne sie aus dem Haus gejagt?
Hatte Milia womöglich die Sache mit den Brüsten weitererzählt? Wusste sie als Einzige, dass Hanna an Milchstau litt?
Und nun, im Hotelgarten auf dem Beckenrand sitzend, spürte Milia, wie sich auf einmal in ihren Brüsten die Milch staute. Der Himmel färbte sich grau. Sie schloss die Augen, erinnerte sich.
Sie ist allein. Es ist drückend heiß. Sie schleicht im Garten nackt um das Haus. Es ist dunkel, aber nicht finster. Wieso hat sie ausgerechnet diese Sequenzen in der traumreichen Hochzeitsnacht ausgelassen?
Nackt steht die kleine Milia vor dem Bassin im Garten des alten Beiruter Hauses. Der Olivenbaum ist da. Schnee rieselt weiß vom Himmel und lässt sich auf dem Wasser nieder. Ihr ist heiß. Sie hat das Gefühl zu ersticken.
Eben noch trug sie ein orangefarbenes Minikleid. Nun liegt es am Boden. Als hätte eine Hand den Reißverschluss vom Nacken den Rücken hinunter aufgezogen, war ihr das Kleid plötzlich vom Körper geglitten. Dieselbe Hand reißt ihr die Unterwäsche vom Leib. Dann steht sie nackt im Wasserbecken. Der Schnee rieselt warm auf sie herab. Sie drückt den Schnee an die Brust. Durstig schnappt sie nach den Flocken. Sie schwimmt und isst Schnee. Sie isst, ohne dass der Durst vergeht. Sie schwimmt, ohne dass ihr kühler wird. Der Traum nimmt kein Ende. Der Durst nimmt kein Ende. Der Schlaf nimmt kein Ende. Der Schnee nimmt kein Ende. Wasser. Überall Wasser. Alles schwimmt im Wasser. Die kleine Milia schwimmt, isst, schläft. Sie ist von Schnee bedeckt und glüht von innen.
Milia zog die Hand aus dem Wasser. Der Schauder hatte von den Brüsten auf den Bauch übergegriffen. Das Gesicht ihres Vaters erschien ihr. Die
Weitere Kostenlose Bücher