Als schliefe sie
Weil…«
»Weil was?«, fragte er. »Sag nicht, dass du geträumt hast, die Juden hätten das Land an sich gerissen und uns vertrieben.«
»Nein, das habe ich nicht geträumt«, sagte sie und schwieg.
Milia wollte nicht aus Nazareth fort. Sie versuchte Mansûr umzustimmen. Aber er ließ nicht mehr mit sich reden. Kaum war er in die Person seines Bruders geschlüpft, hatte das Reden ein Ende. Und wenn das Reden ein Ende hat, hat alles ein Ende. Die Vernunft sagte, dass er die Werkstatt nicht im Stich lassen, dass die Mutter das Geschäft nicht allein führen konnte. Die Vernunft aber sagte auch, dass Mansûr nicht mit seiner Mutter zusammenarbeiten konnte, weil sie tyrannisch war und weil sein Bruder alles für sich behalten und ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Milia konnte nicht behaupten, dass Mansûr ein Feigling war oder je gesagt hatte, er habe Jaffa aus Angst verlassen. Nein, er hatte etwas anderes gesagt. Nämlich, dass er sich lieber aus der Angelegenheit heraushielt, um sich Ärger zu ersparen. Der Ärger aber verfolgte ihn bis nach Nazareth. Die Sache mit Amîn empfand Milia als undurchschaubar. Doch, sie hatte sehr wohl etwas geträumt. Darüber aber bewahrte sie Stillschweigen. Sie fürchtete sich. Denn sie dachte, es ginge um Mûsa.
Milia war mit verquollenen Augen erwacht und dachte, sie hätte im Traum geweint. An jenem Morgen war sie nicht aufgestanden, um Kaffee zu kochen. Sie sei müde, hatte sie zu Mansûr gesagt und so getan, als sei sie wieder eingeschlafen. Kaum war er aus dem Haus, stand sie auf und wusch sich die Augen mit Rosenwasser. Sie traute sich nicht auf die Straße. Denn sie befürchtete, den alten Mann zu treffen und erneut in Tränen auszubrechen. Sie hatte Tanjûs auf der Erde liegen sehen, den Bauch aufgetrieben und von Fliegen umschwirrt. Sie hatte versucht, Menschen auf dem abschüssigen Weg zur Kirche Nôtre Dame de l’Effroi anzuhalten und ihnen zu sagen, dass Tanjûs tot sei und auf den Friedhof gebracht werden müsse. Aber keiner scherte sich um das kleine Mädchen, das mit aufgerissenen Augen, wie auf seine Mutter wartend, dastand. Schulter an Schulter gingen unzählige Männer den schmalen Weg hinab, ohne stehen zu bleiben. Plötzlich tauchte eine Hand mit Schere auf. Sie griff nach ihren kurzen Haaren. Dann rieselte es ihr schwarz in die Augen. Sie sah nichts mehr und fing an zu weinen.
Mansûr kam mittags heim und teilte ihr mit, dass sie sofort nach Jaffa aufbrechen müssten, weil etwas Schlimmes passiert sei. Wortlos zog sich Milia an und war kurz darauf zum Aufbruch bereit. Sie solle einen Koffer packen, forderte Mansûr. Denn sie würden ungefähr eine Woche dortbleiben. Sein Bruder sei…, setzte er an und brach in Tränen aus. Die Tränen färbten sein Gesicht schwarz, für immer. Und seither war an ihm jede Spur von Mûsa weggewischt. Wie die Ähnlichkeit mit Mûsa, an die sie sich deutlich erinnerte, abhandenkommen konnte, war Milia unerklärlich. Stattdessen war Mansûr nun dunkelhäutig wie ein echter Jaffaer. Mit Augen, glänzend wie die seines Bruders, schaute er Milia an und gähnte laut, um das Schluchzen zu überspielen.
Milia atmete Orangenduft ein. Nein, das war nicht Beirut. Beirut roch nach wogenden Pinien und blühenden Silberakazien. Jaffa dagegen zeigte sich völlig anders. Zitrusblütenduft, prächtige Häuser und Angst. Bei ihrem ersten Aufenthalt in Jaffa, einen Monat nach der Hochzeit, hatte sie zu Mansûr gesagt, dass sie diesen Ort künftig meiden würde. Denn der Orangenduft, das habe sie genau gespürt, sei von Angst geschwängert. Seither verabscheue sie Orangen. Denn der Zitrusgeruch jage ihr Angst ein, die ihre Glieder lähmte. Da sie den Orangenduft aber nicht abwehren könne, müsse sie das Gesicht bedecken.
»Das kommt von der Schwangerschaft«, sagte ihre Schwiegermutter. »Hab Geduld!«
Nein, das hatte nichts mit der Schwangerschaft zu tun. Es war ein Gefühl, gegen das sie machtlos war. Es nistete sich in ihren Knochen ein und zwang sie förmlich, das Gesicht zu bedecken, indem sie, wie die anderen Frauen in der Stadt, einen Schleier anlegte.
Milia befand sich jetzt hier, in der Duftenden Stadt, wie Jaffa auch genannt wurde. Was durch die Gassen wehte, sei der Duft der Pomeranzenblüten, sagten die Bewohner, ohne zu ahnen, dass dieser Geruch zu einem Todesboten und zum Leichentuch der Stadt werden würde.
Aus Nazareth angereist, mit einem sieben Monate alten Baby im Bauch, befiel Milia eine Traurigkeit, die nichts mit
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