Also lieb ich ihn - Roman
waren fast 30 Grad, der erste richtig heiße Tag in diesem Jahr.
Hannah hatte das Auto ihrer Mutter an der Ecke Seventeenth und Walnut geparkt, und als sie darauf zusteuerte, |133| kam sie an einem neuen Bekleidungsgeschäft vorbei, das offenbar gerade Eröffnung feierte. Die Verkäufer trugen Jeans und knallbunte T-Shirts, draußen vor dem Eingang hatten sie Lautsprecher installiert, aus denen just der Song schallte, der zum allgegenwärtigen Superhit dieses Sommers werden sollte; Hannah hörte den Song zum ersten Mal. Kurz hinter der Eighteenth Street, zwischen einem Delikatessenladen und einer edlen Boutique mit einem Schaufenster voller Satinkleider, verfiel Hannah in einen Gleichschritt mit drei Passanten, die vor ihr hergingen; sie erkannte nicht auf Anhieb, dass die drei zusammengehörten: ein junges Mädchen, etwa in ihrem Alter, ein Mann, ein paar Jahre älter, und eine Frau, die dem Aussehen nach die Mutter von einem der beiden war. Hannah musterte deren Profile, wenn sie miteinander sprachen. Das Paar – es musste sich um ein Paar handeln, dachte Hannah, als der Mann sich beim jungen Mädchen einhakte, für Geschwister wäre die Art und Weise zu zärtlich gewesen – sah recht gut aus. Der Mann hatte breite Schultern und eine markante Nase. Das Mädchen, in einem grünen Sommerkleid, hatte langes weißblondes Haar, so hell, dass es sie irgendwie verletzlich erscheinen ließ. Ihre Art, das Kinn zu recken, wirkte fast wie die Parodie einer vornehmen Haltung. Die ältere Frau war massig, ihre Bewegungen waren schwerfälliger, und sie hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden. Hannah fragte sich, wo sie hingehen mochten. Der Mann sagte etwas zum Mädchen, und sie schüttelte den Kopf. Da Hannah nicht mitbekam, worüber sie sich unterhielten, begann sie schneller zu gehen. Doch es dauerte fast eine Blocklänge, bis sie wieder miteinander sprachen.
Plötzlich drehte sich die Frau zum Mädchen und sagte: »Bist du glücklich?« Sie sprach mit irgendeinem Akzent, so dass beide Silben betont wurden: Bist du
glück-lich
? |134| Hannah dachte, dass sie aus Osteuropa stammen musste, Ungarn vielleicht.
Das Mädchen antwortete nicht, und so idiotisch das sein mochte, gewann Hannah unwillkürlich den Eindruck, dass die Frage an sie selbst gerichtet war. Wie konnte das Mädchen die Antwort verweigern? War es in ihrem Leben vielleicht immer so gewesen, dass sie gefragt wurde, ob alles nach ihren Wünschen lief? Eine einzige Frage, die sie ein Leben lang begleiten sollte?
Auf der anderen Straßenseite stand ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht; Hannah blickte erst auf den blauen Wirbel und dann zum Polizisten. Der füllte gerade einen Strafzettel für einen Mann aus, der auf dem Fahrersitz eines Kleinbusses wild gestikulierte. Beide schienen weit weg zu sein. Die Musik aus dem Bekleidungsgeschäft war selbst inmitten des Verkehrslärms zu hören, und wie immer, wenn sie im Freien Musik hörte, in einem urbanen Umfeld, hatte Hannah das Gefühl, es sei alles ein Film. In Bezug auf ihren Vater hatte sie einen drastischen, vielleicht unbesonnenen Schritt unternommen. Aber es tat ihr nicht leid. Die hässlichen Auseinandersetzungen, die sie mit ihm führte, hatten durchaus auch eine seltsam verheißungsvolle Seite, als könne aus dem Hässlichen das genaue Gegenteil erwachsen. Und so war Hannah von lauter Möglichkeiten umgeben. Möglicherweise würden sich die Dinge in den kommenden Monaten zum Positiven entwickeln. Sie rückte dichter an die Ungarin heran, so dicht, dass sie ihre Hand auf deren Schulter hätte legen können. »Bist du
glück-lich
?«, wiederholte die Frau ihre Frage, diesmal in einem beharrlicheren Ton, und in diesem Moment hätte Hannah mitten auf der Walnut Street beinahe ja gesagt.
|135| 5
August 1998
In Zimmer Nr. 128 des Holiday Inn in Anchorage hat sich Hannahs Schwester Allison gerade die Zähne geputzt; Hannah wäscht sich das Gesicht. Während sie das Handtuch am Waschbeckenrand ablegt, sagt Allison: »Hannah, ich bin verlobt! Sam und ich wollen heiraten.«
»Sam?« Hannah spricht den Namen aus, als wisse sie nicht recht, um wen es sich dabei handelt, obwohl Sam sich gerade nebenan befindet, im gleichen Hotelzimmer. Aber wie sollte sie auch damit rechnen? Bis eben hat sie sich mit Allison über Belangloses unterhalten, über Sonnenschutzmittel etwa. »Seit wann verlobt?«, fragt sie.
»Letzte Woche hat er mir den Antrag gemacht. Schau mal.« Allison streckt ihre linke Hand aus, sie
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