Also lieb ich ihn - Roman
|171| haben, dass Sam nichts Besonderes sei, viel öfter, als sie bedauert, nicht doch mit Elliot herumgealbert zu haben, wird Hannah noch lange Zeit an ihre Brille denken, die auf dem Grund des Nordpazifiks ruht. Da unten ist es dunkel und still; Fische gleiten vorbei; ihre Brille bleibt unversehrt, die klaren Kunststoffgläser, die Fassung aus Titan. In dieser Stille, in Abwesenheit von Hannah, sieht ihre Brille bis in alle Ewigkeit.
|172| 6
September 1998
Hannah lernt diesen Typen in der Vergabestelle für Studienkredite kennen, als sie darauf wartet, zum Direktor vorgelassen zu werden. Es ist schon das dritte Mal, dass sie die Vergabestelle aufsucht, seit sie aus Alaska zurückgekehrt ist; der Prozess der Antragstellung kommt ihr allmählich so vor wie ein zusätzliches Seminar, für das sie aber keine Leistungspunkte erwerben kann. Auf einem Blatt Papier stellt sie die immergleichen Berechnungen an, als ob sie diesmal zu einem anderen Ergebnis gelangen würde: Wenn die Studiengebühren sich in diesem Jahr auf 23.709 $ belaufen und wenn ihre Mutter den Betrag, den sie pro Semester zuschießt, von 4 000 auf 6 000 Dollar erhöht (»Fühl dich aber nicht dazu verpflichtet«, sagte Hannah, und ihre Mutter sagte: »Ach, Hannah, ich wünschte nur, es könnte mehr sein«) und wenn Hannah einen Studienkredit von 4 300 $ bewilligt bekommt und statt zwanzig dreißig Stunden pro Woche in der Bibliothek für Veterinärmedizin arbeitet – mitten in diesen Zahlenspielen spürt sie, dass der Typ am Empfang sie beobachtet. Sie hebt den Kopf.
»Vielleicht kann ich dir ja die Frage beantworten, solange du wartest«, sagt er. Sie könnte schwören, dass er noch studiert. Er ist bloß drei oder vier Zentimeter größer als sie, hat braune Haare und eine Brille und sieht nicht gerade umwerfend aus.
Hannah schüttelt den Kopf. »Das ist nicht so einfach.«
»Probier doch mal. Ich arbeite hier schon seit Jahren.«
»Ich bin ein Ausnahmefall«, antwortet Hannah; damit zitiert sie wortwörtlich, was der Direktor der Vergabestelle |173| ihr erklärt hat – die Ausnahme besteht darin, dass Hannah erst Ende Mai erfahren hat, dass sie finanzielle Unterstützung benötigen würde, als das Studienjahr schon vorbei war –, trotzdem lächelt der Typ.
Er sagt: »Oh, das hab ich mir gleich gedacht.«
Entweder flirtet er mit ihr, oder er macht sich über sie lustig; auf jeden Fall geht er ihr auf die Nerven. Sie sieht wieder auf das Blatt und notiert weitere Zahlen.
Keine Minute später sagt der Typ: »Ich war bei der Ausstellung im M.F.A.«
Das Buch auf Hannahs Schoß, unter dem Blatt Papier, ist eine Biographie von Pierre Bonnard. Hannah zieht ihn als Thema für ihre Abschlussarbeit in Betracht.
»Das ist doch der, der immer seine Frau beim Baden malt?«
Hannah nickt. Sie ist durchaus beeindruckt. »Hast du sein letztes Bild gesehen?«, fragt sie. »Seine Frau starb, als es noch in Arbeit war, aber dann stellte sich heraus, dass es mit Abstand sein bestes ist. Das Zusammenspiel der warmen und kalten Farben ist phantastisch, allein wie die Bodenkacheln und die Wand … na ja, sie leuchten geradezu.« Gleich ist sie wieder verlegen. Dieses
leuchten
– ist das nicht das typische Geschwätz einer Studentin der Kunstgeschichte?
Aber der Typ nickt bloß. Es scheint ihn wirklich zu interessieren. Er sagt: »Als ich in der Ausstellung war …«, – genau in diesem Augenblick öffnet der Direktor der Kreditvergabestelle seine Bürotür und streckt den Kopf heraus. »Hannah Gavener?«, ruft er. Sie steht auf und folgt ihm in sein Büro.
Orte, an denen Hannah in den letzten drei Jahren von Fig versetzt wurde: zwei Starbucks-Filialen (die am Kenmore Square und die an der Ecke Newbury Street und Clarendon); |174| der Clinique-Schalter im zweiten Stock von
Filene’s
; und jetzt, an diesem Sonntagmorgen, Figs Wohnung außerhalb vom Campus. Sie wollten sich zum Brunch treffen. Hannah steht in der schäbigen Eingangshalle von Figs Wohnhaus und drückt dreimal hintereinander auf den Knopf der Gegensprechanlage. Nach dem dritten Mal meldet sich eine schläfrige, aggressive Frauenstimme – vermutlich eine von Figs drei Mitbewohnerinnen: »Wer ist da?«
»Hannah, ich bin mit …«, beginnt sie, aber die Stimme unterbricht sie.
»Fig ist nicht hier. Gestern Nacht ist sie gar nicht erst nach Hause gekommen.« Die folgende Funkstille signalisiert ein klares Ende; Hannah ahnt, dass es keinen Zweck hat, es ein weiteres Mal zu versuchen.
Von zu
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