Alta moda
mindestens noch ein zweites oder irgendeine Schutzhütte, in der meine Entführer schliefen. Hinter deren hektischer Betriebsamkeit und ihren Klagen über die viele noch anstehende Arbeit wähnte ich eine großangelegte Tarnaktion und stellte mir vor, daß sie das Versteck mit abgeholzten Ästen und Zweigen abdeckten, damit es aus der Luft nicht auszumachen war. Ich stellte das Tablett auf die Erde und wartete, denn ich wagte nicht mehr, irgend etwas ohne ausdrücklichen Befehl zu tun. Meine Hände und Füße waren schon ganz taub vor Kälte, trotzdem sog ich die frische Luft mit tiefen, gierigen Zügen ein. Dazwischen lauschte ich, doch kein Laut durchdrang das Rauschen in meinem Kopf, und als mich jemand anschubste und ins Zelt zurückdirigierte, kroch ich bereitwillig in meinen Schlafsack, um mir die kalten Füße zu wärmen.
Da ich die eben verabreichte Mahlzeit für das Mittagessen hielt, richtete ich mich jetzt auf den Nachmittag ein, eine lange Zeit qualvoller Leere, in der ich nichts hören und nichts sehen würde. Ich würde lernen müssen, mich auf mein Inneres zu besinnen und auf den lebenslangen Vorrat an Bildern und Klängen zurückzugreifen, die in meinem Kopf gespeichert waren. Ich mußte lernen, die Tränen zurückzuhalten; zu essen, wann es verlangt wurde, und nicht, wann ich Hunger hatte; das wenige, das ich noch hören konnte, nicht zu verraten und mich durch vorsätzliche Schikanen nicht provozieren zu lassen. Und wenn ich nicht verrückt werden wollte, mußte ich lernen, Schmerz und erzwungene Bewegungslosigkeit ruhig hinzunehmen. Ich, die immer Rastlose, mußte lernen, mich in Geduld zu fassen und abzuwarten. Ich hatte mich stets als Kämpfernatur gesehen, doch nun war ich gezwungen, die Waffen niederzulegen. Wenn ich mein Leben retten wollte, mußte ich mich still in mich selbst verkriechen und einfach treiben lassen.
An diesem Nachmittag dachte ich lange darüber nach, wie es wohl jetzt zu Hause zugehen mochte. Ob meine Kinder die Polizei eingeschaltet hatten oder die Carabinieri? Hatten die Entführer sich schon bei ihnen gemeldet? War die Presse informiert? Ich dachte an die Nervosität, mit der wir der bevorstehenden Modenschau in New York entgegengefiebert hatten. Jetzt wurden meine Kinder von ganz anderen Ängsten heimgesucht. Womöglich drohte ihnen abermals eine ungewisse Zukunft, ein Leben in Armut. Uns blieb ja nichts weiter übrig, als jede nur erdenkliche Summe aufzutreiben. Wie hatte ich bloß so fahrlässig sein können, binnen weniger Sekunden unser aller Schicksal zu gefährden? Aber wie hätte ich es verhindern sollen, daß wildfremde Menschen unsere Welt, die ich so umsichtig aufgebaut hatte und fest im Griff zu haben glaubte, aus schierer Geldgier aus den Angeln hoben?
Träge verstrichen die Minuten, bis der Nachmittag um war und wieder jemand an meinem Fuß rüttelte. Inzwischen wußte ich, was ich zu tun hatte, und das Ritual vollzog sich reibungslos: wie gewohnt mit Tablett und Brötchen, diesmal bereits aufgeschnitten, mit Käse und saurem Wein.
Ins Zelt zurückgekehrt, begann ich mit den Vorbereitungen für die Nacht. Es hatte etwas Tröstliches, sich auf lauter kleine Handgriffe zu konzentrieren, auch wenn sie einen, da man weder sehen noch hören konnte und zudem durch eine Kette behindert war, plötzlich vor ungeahnte Schwierigkeiten stellten. So kam ich erst in den Schlafsack, nachdem ich die Kette ganz zu mir hereingeholt hatte. Als das geschafft war, zog ich den Reißverschluß hoch, breitete mir den Mantel über die Knie und tupfte mir, noch im Sitzen, mit angefeuchteter Papierserviette Gesicht und Hände ab. Jede gelungene Verrichtung war ein kleiner Sieg. Ich trank ein paar Schluck Wasser aus der Flasche und achtete darauf, nichts zu verschütten, was mir jetzt, da die Flasche nur noch knapp halb voll war, wesentlich leichter fiel. Auch das Festhalten an so einer kleinen, alltäglichen Gewohnheit wie dem Schluck Wasser vor dem Einschlafen hatte etwas Tröstliches. Ich zog den Mantel noch ein Stück höher hinauf, rutschte bis zum Hals in den Schlafsack und drehte mich auf die Seite.
Es gelang mir, den Aufschrei zu einem halb erstickten Stöhnen zu dämpfen, ehe ich mich keuchend vor Schmerz auf den Rücken zurückwälzte. Aus Angst, mir weh zu tun, hatte ich noch nicht gewagt, meine Ohren abzutasten, und wußte daher auch nicht, wie groß die steinharten Gebilde waren, mit denen der Holzfäller sie verstopft hatte. Bei der Seitwärtsdrehung verlagerte sich
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