Alta moda
allzu menschlichen Hoffnung, den Gang der Ereignisse mit nachträglichen Argumenten korrigieren zu können. »Ich wußte doch«, sagte er etwa, »wie müde sie war, warum bin ich da nicht mit dem Hund runtergegangen… Meine Schwester hatte schon geduscht und wollte sich schlafen legen, aber ich…« Oder: »Ich war schon drauf und dran, sie zu begleiten. Ich saß über einem neuen Entwurf und brauchte sowieso einen Kaffee, um munter zu bleiben, damit das Modell an dem Abend noch fertig würde. Wissen Sie, wir sind um die Zeit oft noch auf einen Sprung in eine Bar gegangen, also hätte ich doch ohne weiteres… wenn ich bloß mit ihr…«
»Sie dürfen sich nicht so quälen. Sie schaden sich damit, und Ihrer Mutter hilft es nicht.«
»Eigentlich hätte sie um die Zeit gar nicht in Florenz sein sollen. Wissen Sie, wir haben ein Ferienhäuschen auf dem Land, nicht allzu weit draußen, sonst nähme sie sich nie die Zeit, hinzufahren, aber dort hat sie sich vor der Modewoche in Mailand immer für ein paar Tage zurückgezogen, sobald unsere Kollektion stand, um wieder frisch zu sein, wenn es richtig losging, denn Mailand, das ist Streß pur, ein nervenaufreibender Marathon. Nur dieses Jahr hat sie sich keine Pause gegönnt, weil wir doch im April zum erstenmal in New York ausstellen werden. Ich hätte sie mehr entlasten müssen, ihr das Gefühl geben, daß ich die Verantwortung für das Atelier auch allein tragen kann. Wäre sie wie jedes Jahr aufs Land gefahren, dann hätte das nicht passieren können.«
»Ich glaube, da täuschen Sie sich. Die Gangster haben womöglich tagelang auf ihre Chance gewartet und hätten sich auch durch so eine Verzögerung nicht abschrecken lassen.«
»Aber warum? Wieso unsere Familie? Wir sind doch längst nicht reich genug.«
Dieser Einwand konnte ja nicht ausbleiben. Es gab so gut wie keinen Entführungsfall, bei dem die offiziellen Vermögensangaben der betroffenen Familie mit den Informationen der Erpresser übereinstimmten. Aber die Syndikate holten ihre Kalkulationen ein, und die Behörden stellten ihrerseits Recherchen an, und am Ende schaute der Fiskus diskret beiseite, wenn unversteuerte Gelder durch Mittelsmänner von ausländischen Konten abgehoben wurden. Natürlich waren Irrtümer nicht auszuschließen, aber im großen und ganzen verstanden sich diese Erpresser auf ihr Geschäft.
»Sicher, meine Mutter ist heute eine erfolgreiche Geschäftsfrau, aber wenn Sie wüßten, wie sie geschuftet hat, wie viele Jahre es dauerte, ehe wir überhaupt Gewinn machten, wie lange sie sich von Kredit zu Kredit durchlavieren mußte. Jetzt hat sie es geschafft, ja, aber sie hat auch alles reinvestiert, um sich ein Standbein auf dem ausländischen Markt zu schaffen. Es ist durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß wir dieses Jahr gar keinen Profit erwirtschaften. Wissen Sie, was mir heute morgen einfiel, während ich auf die Visite warten mußte? Die Ermordung Versaces. Erinnern Sie sich an die Fernsehberichte im Anschluß an die Tat? Versace war natürlich schon vorher prominent gewesen, aber erst, als die Leute seine Villa in Miami sahen, wurde ihnen klar, wieviel Geld der Mann gescheffelt haben muß, und das erzeugte eine regelrechte Schocklawine. Im Handumdrehen kamen Gerüchte auf: Mafiaverbindungen… Geldwäsche… Gott weiß was alles… Glauben Sie, dieser Medienrummel könnte der Auslöser für Mutters Entführung gewesen sein? Ich meine, vielleicht ist man in Verbrecherkreisen ja erst dadurch auf die Modewelt aufmerksam geworden – denken Sie auch an den Gucci-Mord, was da für Summen genannt wurden…«
»Gut, daß Sie sich mit diesem Aspekt beschäftigen«, versetzte der Maresciallo ausweichend. »Das wird uns bei der Motivsuche helfen.«
»Ist die denn so wichtig – ich meine, für die Rettung meiner Mutter? Daß sie bei Ihren Ermittlungen eine Rolle spielt, ist mir schon klar.«
»Das tut sie in einem wie im anderen Fall. Wenn wir wissen, wer den Anschlag vorbereitet und geplant hat, dann können wir Rückschlüsse auf die Täter ziehen, auf deren Umfeld und das Terrain, in dem sie operieren.«
»Verstehe, aber trotzdem…« Er erhob sich aus dem tiefen Ledersessel und begann im Zimmer auf und ab zu wandern, wobei er zerstreut bald die Bilder ins Auge faßte, bald die Reihe quastengeschmückter Jahrbücher, die Orden, den tadellos aufgeräumten Schreibtisch. »Wir sind nicht Versace, mit einem solchen Haus können wir uns weder finanziell noch vom Bekanntheitsgrad
Weitere Kostenlose Bücher