ALTEA (Sturmflut) (German Edition)
‚macht‘ man Menschen? Du musst doch zumindest eine Mutter haben. Ich meine… eine Frau, die dich geboren hat… oder?“
„Nein.“ Er nahm mir die Waffe wieder aus der Hand, wohl wissend, dass ich heute auf nichts mehr schießen würde. „Meine ‚Mutter‘ ist nur eine Frau, die Eizellen gespendet hat und das Gleiche gilt für meinen ‚Vater‘. Ibrahim und ich stammen aus derselben Eizelle. So, wie unsere ‚Brüder‘ auch. Alles ein schneller Vorgang im Labor. Der Ersatz für eine Gebärmutter ist ein simpler Tank mit Nährflüssigkeit.“ Erklärte er gelassen, als hätte das alles nicht das Geringste mit ihm zu tun.
„Das klingt schrecklich.“ Ich wollte es gar nicht laut sagen, aber die Worte verließen einfach meinen Mund.
„Ich denke es gibt Schlimmeres.“
„Du weißt also gar nichts über deine leiblichen Eltern?“ Ich sah ihn an und er schien wirklich darüber nachzudenken.
„Ich weiß nur, dass die Eizelle, aus der ich entstanden bin, den Codenamen ALTEA hatte. Das ist sehr wahrscheinlich nicht der Name der Frau, von der sie stammte, aber es ist alles, was ich weiß. Das Sperma stammte vermutlich von irgendeinem besonders engagierten Soldaten. Ich habe keine Ahnung.“ Er kicherte ein wenig und ich verstand nicht genau, was daran komisch war.
„Wer hat euch eure Namen gegeben? War das Rubinov?“ Auf diese Frage musste er lachen. Sogar ziemlich lang. Ich fühlte mich dumm, doch wahrscheinlich war es auch einfach eine dumme Frage. Rubinov war der einzige Mann mit wirklicher Befehlsgewalt, den ich hier kannte. Sein Name war demnach auch der einzige, der mir eingefallen war.
„Und wieder lautet die Antwort: Nein. Ich habe eine Seriennummer bekommen. Bis ins junge Erwachsenenalter war ich ALTEA-P5. Oder kurz: AP5. Meinen Namen habe ich mir später selbst gegeben. Eine der wenigen Freiheiten, die wir hatten. Gefällt dir Aljoscha?“ Er strahlte mich mit einem hoffnungsvollen Blick an.
„Ja. Das war eine gute Wahl.“ Sagte ich etwas irritiert. Meine Stimme war leise und klang wenig überzeugend. Obwohl ich jeden anderen Namen wohl auch schön gefunden hätte. Es war einfach der Namen, der zu ihm gehörte. Einen anderen konnte ich mir jetzt nicht mehr vorstellen. Es war alles so komisch. In der vergangenen Woche war ich mehr als nur einmal innerlich völlig eingebrochen und hatte wieder zu mir gefunden. Obwohl ich jetzt die ganze Wahrheit über Aljoscha kannte, würde sich nicht ändern, wie ich für ihn empfand. Es beschäftigte mich fast in jedem Augenblick, doch ich konnte ihn nicht hassen. Ich wollte es nicht einmal versuchen. So verachtenswert ich alles fand, was er damals getan hatte, ich konnte es verstehen. Ich hätte nie von mir geglaubt, solche Handlungen einmal verstehen zu können, aber es war so. Es widersprach meinen tiefsten Überzeugungen und meinen Prinzipien. Obwohl selbst Aljoscha gesagt hatte, dass ich nicht für ihn nach Ausreden suchen durfte, tat ich es und ich fühlte mich wie eine Heuchlerin. Er hatte Recht. Es war nicht zu entschuldigen. Ich hätte es wohl auch bei keiner anderen Person entschuldigt. Nicht einmal mir selbst hätte ich so etwas verzeihen können. Doch bei Aljoscha war es etwas anderes. Verachtung war ein Gefühl, das ich mit ihm nicht in Einklang bringen konnte. Ebenso wenig wie Hass oder Misstrauen. Erst in diesem Moment begriff ich, dass ich mein Leben immer in Extremen geführt hatte. Es gab nicht nur Schwarz und Weiß. Das erkannte ich jetzt. Und mit dieser Erkenntnis kam auch Einsicht. Ich hatte mich anderen Menschen gegenüber moralisch überlegen gefühlt, da ich davon überzeugt war, immer moralisch richtig gehandelt zu haben. Ich wurde so erzogen. Wie hätte ich über alles gedacht, wenn ich ein völlig anderes Weltbild gehabt hätte? Aljoscha sah sich allein für seine Taten verantwortlich. Ich sah das anders und es war einfach unmöglich einen von uns als Lügner zu bezeichnen. Was hätten sie mit ihm gemacht, wenn er sich geweigert oder seine Vorgesetzten nicht zufriedengestellt hätte? Hätten sie ihn einfach ‚entsorgt‘? Vermutlich. Und kein Lebewesen ergab sich einfach dem Tod. Wir wollten alle leben. Das war doch nur natürlich. Ich sah ihm wieder direkt in seine blassgrünen Augen. Er war ein Mensch. Ein guter Mensch und dieses Empfinden konnte auch nichts ändern.
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