Alter schützt vor Scharfsinn nicht
holt man zweimal Luft und erleidet trotzdem Erstickungsanfälle. Man wirft verzweifelte Blicke auf die Fenster, die alle fest geschlossen sind, aber Pikeaway reagiert auf solche Andeutungen nie.«
»Und warum will er dich sehen?«
»Keine Ahnung. Allerdings erwähnt er Robinson.«
»Was? Den dicken Mann mit dem gelben Gesicht, der irgendwas ganz Geheimnisvolles ist?«
»Ja, den«, bestätigte Tommy.
»Hm. Na, vielleicht ist unser Fall auch etwas ganz Geheimes.«
»Kann ich mir nicht vorstellen, wenn man bedenkt, wie endlos lange es her ist, sodass sich nicht mal Isaac richtig daran erinnert.«
»›Neue Sünden haben alte Schatten‹«, sagte Tuppence, »falls das das Sprichwort ist, das ich meine. Oder heißt es: ›Alte Sünden werfen lange Schatten?‹«
»Denk nicht weiter drüber nach«, riet Tommy. »Beide Fassungen klingen falsch.«
»Ich glaube, ich besuche heute Nachmittag diesen Fotografen. Kommst du mit?«
»Nein. Ich möchte am liebsten an den Strand gehen und schwimmen.«
»Schwimmen! Das Wasser muss doch sehr kalt sein.«
»Das ist mir egal. Ich habe das Bedürfnis nach einem kalten, erfrischenden Bad, um das Gefühl von diesen Spinnweben loszuwerden. Ich bilde mir ein, dass sie mir über die Ohren und um den Hals hängen und sogar zwischen den Zehen kleben.«
»Ja, eine besonders schmutzige Arbeit haben wir uns da ausgesucht«, sagte Tuppence. »Gut, dann gehe ich zu Mr Durrance. Übrigens ist da noch ein Brief, Tommy, den du nicht geöffnet hast.«
»Ah, den habe ich übersehen. Na, das könnte eine Überraschung sein.«
»Von wem ist er?«
»Von meiner Detektivin«, sagte Tommy etwas hochtrabend. »Von der Dame, die kreuz und quer durch England eilt und im Somerset House ein und aus geht, um in der Registratur Todesfälle, Heiraten und. Geburten zu klären, und Zeitungsarchive und Volkszählungsunterlagen durchforstet. Sie ist sehr tüchtig.«
»Tüchtig und schön?«
»Nein, zumindest fällt ihre Schönheit nicht ins Auge.«
»Das freut mich aber«, sagte Tuppence. »Weißt du Tommy, jetzt, wo du nicht mehr der Jüngste bist, könntest du – die gefährliche Idee entwickeln, eine schöne, junge Helferin zu brauchen.«
»Du erkennst eben einen treuen Ehemann nicht, wenn du ihn vor der Nase hast.«
»Alle meine Freundinnen sagen, Ehemänner sind unberechenbar.«
»Du hast die falschen Freundinnen, Tuppence.«
19
T ommy fuhr durch den Regent’s Park und kam dann durch verschiedene Straßen, in denen er seit Jahren nicht mehr gewesen war. Früher einmal, als er und Tuppence eine Wohnung in der Nähe des Belsize Park gehabt hatten, war er oft mit dem Hund in Hampstead Heath spazieren gegangen. Er erinnerte sich noch genau an James, einen Sealyhamterrier, der überaus eigenwillig gewesen war. Immer, wenn sie aus dem Haus traten, wollte er nach links abbiegen, in Richtung Heide. Alle Versuche, ihn nach rechts zu zerren, wo es zu den Geschäften ging, wurden energisch abgewehrt. Er presste seinen schweren wurstförmigen Körper platt aufs Straßenpflaster, ließ die Zunge heraushängen und spielte den erschöpften, von seinen Besitzern roh überanstrengten Hund. Die Passanten enthielten sich selten eines Kommentars.
»Ach, sieh doch den netten kleinen Hund. Den da, mit dem weißen Fell – eigentlich sieht er wie eine Wurst aus, nicht? Und was der arme Kerl keucht! Die Besitzer lassen ihn sicher nicht in Ruhe. Er sieht ganz erschöpft aus. Er kann nicht mehr.«
Tommy hatte Tuppence die Leine aus der Hand genommen und zog James energisch in die entgegengesetzte Richtung, in die er aber nicht gehen wollte.
»Ach Gott!«, rief Tuppence. »Kannst du ihn nicht auf den Arm nehmen, Tommy?«
»James tragen! Der ist viel zu schwer.«
James hatte inzwischen seinen wurstförmigen Körper geschickt gewendet und strebte wieder in Richtung Heide.
»Da, schau mal, der arme, kleine Hund. Der will nur noch nachhause.«
James zerrte an der Leine.
»Na, schön«, seufzte Tuppence. »Kaufen wir eben später ein. Jetzt müssen wir James seinen Willen lassen. Er ist so schwer. Man kann ihn einfach nicht hinter sich herziehen.«
James sah auf und wedelte. Da hast du aber Recht, schien das Wedeln zu besagen. Endlich hast du begriffen. Komm schon! Fast immer waren sie dann auf die Heide gegangen.
Als Tommy das letzte Mal bei Oberst Pikeaway gewesen war, hatte er in Bloomsburry gewohnt. Es war ein kleines, enges, verrauchtes Zimmer gewesen. Diesmal verbarg sich hinter der angegebenen Adresse
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