Alterra - Der Krieg der Kinder: Roman (German Edition)
Nachbarn zu unterhalten. Das dauerte allerdings nie sehr lange, denn beim geringsten Laut oder unerwarteten Luftzug hasteten sie an ihren Platz zurück.
Nur mit Colin sprach niemand. Dass er ihrem Peiniger ein anderes Kind zum Fraß vorgeworfen hatte, um sich zu retten, hatte ihm den Hass aller Mitgefangenen eingetragen.
Dafür würde es Vergeltung geben. Tobias fragte sich, ob der Racheakt während einer ihrer kurzen Schlafperioden oder beim nächsten Auftauchen des Ungeheuers erfolgen würde.
Sein Verhältnis zu Colin war widersprüchlich: Er verabscheute ihn, empfand aber auch Mitleid. Colin hatte seine Strafe mehr als verdient, und dennoch bedauerte Tobias den armen Tölpel, der sich überall ungewollt und fehl am Platze fühlte. Weil er überzeugt gewesen war, dass die Pans ihn nicht leiden konnten und die Zyniks früher oder später ohnehin die Herrschaft übernehmen würden, war er übergelaufen. Als ihn auch die Erwachsenen zurückwiesen, hatte er beim Unschuldstrinker Halt gesucht. Nachdem jener aus seinem Zeppelin in die Tiefe gestoßen worden war, hatte er sich aus Angst vor der Rache der Pans den einzigen Beschützer gesucht, der ihm noch mächtig genug schien: den Torvaderon.
Colin war ein egoistischer und feiger Dummkopf, aber eigentlich wollte er nichts anderes, als irgendwo seinen Platz zu finden.
Tobias stellte fest, dass sich die Wogen der Angst in seinem Inneren geglättet hatten.
Über Colin nachzudenken war eine beruhigende Ablenkung.
Da schoss ihm das Bild der Riesenspinne mit ihren behaarten, tastenden Gliedern durch den Kopf, und auf den Strand seines Geistes ging ein Sturzregen nieder.
Tobias stemmte sich sofort dagegen, um die Kontrolle zurückzuerlangen.
Die Kreatur zeigte sich vorerst nicht mehr. Kaum hatte sie ihr Opfer verspeist, hatte sie ihren widerlichen Leib durch die kleine Türöffnung gezwängt und war seither nicht wieder aufgetaucht.
Zum ersten Mal konnte Tobias die unheimliche Lethargie dieser Gefangenschaft so weit abschütteln, dass er darüber nachzudenken begann, was außerhalb der Grotte existierte. Wohin begab sich das Ungeheuer, wenn es seine Höhle verließ? Hinter dem Gitter konnte er weder Licht noch Bewegungen ausmachen.
Eine Welt aus Finsternis. Ihre Gedanken, die der Angst hilflos ausgeliefert waren, kreisten im Nichts.
Worauf wartete er hier? Den Tod?
Jetzt nicht mehr.
Auf seine Freunde? Ambre und Matt?
Sei realistisch, wie könnten sie mich hier finden?
Er wartete auf gar nichts mehr.
Also stand er auf, tappte vorsichtig zwischen den Schädeln und Knochen hindurch in die Mitte der Grotte und hob seinen Leuchtpilz auf.
»Was machst du?«, fragte eine Stimme panisch. »Unser Licht! Lass es da! Lass es da!«
»Nur zu«, ertönte eine andere aus der Dunkelheit. »Nimm es weg, dieses Scheißlicht! Wir wollen dem Ungeheuer nicht noch mal beim Fressen zusehen!«
Tobias ging zum Eingang und kniete sich vor die Tür.
Ein kreisförmiges Holzgitter, das mit einer weißlichen, zähen Substanz überzogen war.
»Spinnenfäden?«, überlegte Tobias laut.
Er griff nach einem Oberarmknochen und tippte damit gegen das Gitter. Er musste ihn richtiggehend losrütteln, das weiße Zeug pappte besser als Sekundenkleber.
Daraus folgerte er, dass das Gitter mit Hilfe dieses widerlichen Klebstoffs an der Wand befestigt war, denn er konnte keine Schlösser erkennen. Offenbar riss der Verschlinger die Tür jedes Mal an einer Seite auf und schmierte sie an dieser Stelle wieder zu, wenn er die Höhle verließ.
Die Gitterstäbe lagen etwa eine Handbreit auseinander. Tobias holte tief Luft, um sich Mut zu machen, und schob den Leuchtpilz hindurch.
Er sah eine weitere Grotte. Sie war kleiner und niedriger, aber offenbar sehr lang. Tobias spürte einen leichten Lufthauch. Auf der anderen Seite des Gitters stieg der Boden an. Wenn es irgendwo einen Ausgang gab, dann hier und nicht am Ende ihrer Höhle, die er bereits erkundet hatte.
Tobias achtete sorgfältig darauf, nicht mit dem klebrigen Zeug in Berührung zu kommen, als er seinen Arm zurückzog. Er inspizierte die Umrisse des Holzgitters und glaubte, an einer Seite so etwas wie Türangeln auszumachen. Entschlossen packte er den Oberarmknochen, legte ihn auf einen Gitterstab auf der entgegengesetzten Seite und stellte sich so davor, dass die anderen Gefangenen nicht sehen konnten, was er tat. Dann begann er, den Knochen auf dem Stab hin und her zu reiben. Bei normalem Tempo wäre dieses Unterfangen aussichtslos
Weitere Kostenlose Bücher