Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
schreckliche Weise verfluchen wird, wenn ich mich von Ihm abwende. Und ich empfinde immer noch Liebe für meinen Vater und mein Volk. Wenn sie in Not wären, dann würde ich sie verteidigen, und ganz gleich, wie friedlich wir leben, ein Teil von mir wird immer ein Krieger bleiben – zwar ein widerwilliger Krieger, aber dennoch ein Krieger. Aber wenn du das nächste Mal in einen Tempel gehst, um der Göttin Erde Blumen zu schenken, dann bin ich bereit, mit dir zu gehen.«
Er streckte eine Hand aus und berührte den gelben Stein, den die Priesterinnen von Nar Marrah geschenkt hatten. »Wer weiß, was in der Zukunft geschieht? Vielleicht werde ich eines Tages diese kupfernen Sonnen abnehmen und sie zu deinen Füßen verstreuen wie Sterne, die vom Himmel fallen.«
11. KAPITEL
»Ich habe Shara schimmern sehen,
sah seine weißen Häuser in der Sonne leuchten.
Schönste aller Städte,
erbaut am Rande
des weindunklen Sees,
Sabalah hat dir
ihre kostbarsten Schätze geschickt.
Sabalah hat dir
die Kinder ihres Herzens gesandt.«
Sabalahs Lied, die letzten drei Strophen (von Westen nach Osten gesungen)
Von Shemsheme zum Süßwassersee
Der Rauchfluß bestand aus zwei Flüssen, durch eine enge Schlucht voller gefährlicher Stromschnellen getrennt, die die Handelsrouten in zwei Teile trennte. Bekannt als Shemsheme oder »Die Knie der Göttin«, wurde die Schlucht in vielen Liedern besungen und war berüchtigt für die Anzahl von Booten, die an ihren Felsen in tausend Stücke zerschellt waren, als sie von einem Ende zum anderen zu gelangen versuchten, und als sich Marrah, Stavan und Arang diesem Gebiet näherten, bekamen sie eine endlose Reihe von furchterregenden Geschichten zu hören.
Oberhalb von Shemsheme war der Fluß eine nebelverhüllte, stille Fläche grau-grünen Wassers, das zwischen flachen Hügeln dahin-floß. Es gab keine nennenswerten Strömungen, und an normalen Tagen war das Wasser so ruhig, daß die Einheimischen ihren Flachs im Hauptflußbett einweichen konnten. Rinder standen knietief in der trägen Strömung und kauten geduldig ihr wiedergekäutes Futter, während kleine Kinder sie wuschen und sich gegenseitig lachend naß spritzten. Bei Sonnenuntergang wurde der Fluß zu einem Spiegel, in dem rote, blaue und violette Lichter reflektierten, und falls nicht gerade ein Windstoß die Wasseroberfläche kräuselte oder eine Schar Vögel laut krächzend vorbeiflog, störte nichts die brütende Stille.
Unterhalb von Shemsheme war der Fluß allen Berichten zufolge nicht viel anders. Breit und träge floß er durch eine weite, flache Ebene, und die Strömung war so langsam, daß sich ein Strohhalm, der aus einem Boot geworfen wurde, kaum vorwärtszubewegen schien. Schließlich wandte sich der Fluß nach Norden und dann nach Osten, wobei er sich verzweigte und sich einen Weg durch ein schilfbewachsenes Delta bahnte, bevor er sich in den Süßwassersee ergoß. Doch bei Shemsheme wurde der Fluß zu einem wilden Geschöpf. Tosend und wild schäumend schoß er zwischen den Knien der Göttin hindurch und warf dabei Wellen auf, höher als ein ausgewachsener Mann.
»Ihr werdet gegen die Klippen geschleudert werden, und eure Boote werden zertrümmert«, versicherten die Dorfbewohner Marrah, als sie ihnen erzählte, wohin sie wollten. »Und selbst wenn ihr durch irgendein Wunder überlebt, werden euch die Strudel in die Tiefe ziehen. Wenn ihr wirklich vorhabt, den ganzen weiten Weg zum Süßwassersee zu reisen, dann laßt eure Boote zurück und geht zu Fuß um Shemsheme herum. Wir wissen, daß einige Händler sagen, sie seien bereit, die Stromschnellen zu bezwingen, aber sie sind verrückt. Hört nicht auf sie.«
Aber die Händler, die Marrah und ihre Gefährten führten, hatten nicht die Absicht, ihre Fracht zu riskieren. Sobald sie zu den zerklüfteten Felsen kamen, die den Eingang der Schlucht kennzeichneten, befahlen sie allen, aus den Booten auszusteigen. Die nächsten fünf Tage wanderten sie über Land und schleppten die Einbäume über schmale Pfade, so steil, daß selbst eine Ziege Schwierigkeiten gehabt hätte. Manchmal sahen sie weißschwänzige Adler in den Wipfeln über sich hocken, aber ganz gleich, wie hoch sie kletterten, sie konnten immer das Rauschen des Flusses unter sich hören.
Allmählich wurde das Wasser wieder ruhiger. Am letzten Abend der Wanderung kletterten sie den Abhang hinunter und lagerten am Fuß der Felsen auf einem schmalen weißen Geröllstreifen, um am
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