Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
jungen Gesicht und altem Haar.«
»Dann seid ihr die Händler, nach denen wir Ausschau gehalten haben«, erwiderte das Mädchen, als es näher herangeschwommen kam. Sie trat Wasser und ließ ihren Blick suchend über die beiden Einbäume schweifen, bis sie Marrah entdeckte. »Gute Mutter Marrah «, rief sie, »unser Ältestenrat bittet dich, an Land zu kommen und unser Dorf mit deiner Anwesenheit zu beehren.«
»Mich?« Marrah wußte, sie war niemandes Mutter. Das Mädchen bot ihr viel zu viel der Ehre. »Ich komme natürlich gerne, aber warum sollte mich euer Dorfrat sprechen wollen?«
»Gute Mutter, die Schwester des Partners meiner Tante leidet an einer sonderbaren Krankheit, und die Händler, die letzte Woche vorbeikamen, sagten uns, du hättest große Heilkräfte.«
Marrah war erstaunt, daß sich Neuigkeiten so schnell flußabwärts verbreiten konnten, und gleichzeitig verärgert, weil diese hier falsch war. Sie begann zu erklären, daß sie keine außergewöhnlichen Kräfte besäße, und brach gleich darauf ab, als ihr die Sinnlosigkeit dieser Unterhaltung klar wurde. »Gut, ich werde kommen«, rief sie.
»Möge die Göttin dich segnen, gute Mutter!« riefen die Kinder und schwammen wieder zum Ufer, ließen Marrah verlegen und mehr als ein bißchen verwirrt zurück.
»Ich frage mich, wie sie auf die Idee gekommen sind, ich hätte spezielle Heilkräfte«, sagte sie zu Stavan, als sie hinter den Kindern herruderten. Stavan zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
»Möge die Göttin dich segnen, gute Mutter«, kicherte Arang. »O Marrah, jetzt kannst du dich auf was gefaßt machen!«
»Hör sofort damit auf«, befahl sie streng. »Es ist nicht nett, sich über Leute lustig zu machen, die höflich sein wollen.«
Das Dorf war kleiner als die meisten, eine Ansammlung von nicht mehr als fünfzehn Häusern, die von zwei Hauptstraßen und einem Zaun getrennt wurden, der das Vieh davon abhalten sollte, ungebeten ins Dorf zu wandern. Der Ältestenrat wartete bereits auf Marrah, als sie aus dem Boot stieg. Die Leute verbeugten sich feierlich vor ihr und boten ihr eine Schale mit Honig an, vermischt mit einer sonderbaren Art eingedickter Milch.
»Willkommen, gute Mutter«, sagten sie. Marrah ignorierte Arangs Kichern, als sie die Schale mit beiden Händen entgegennahm und daraus trank, wobei sie sich angestrengt bemühte, nicht das Gesicht zu verziehen. Die dicke Milch schmeckte sauer trotz des Honigs, aber da es ziemlich unwahrscheinlich war, daß sie ihr etwas Verdorbenes anbieten würden, mußte dies wohl eine einheimische Delikatesse sein.
»Danke«, sagte sie und reichte die Schale der Frau zurück, die sie ihr gegeben hatte. Sie blickte die Ältesten an; es waren insgesamt sechs, drei Männer und drei Frauen, allesamt weißhaarig und in fleckenlose Leinengewänder gekleidet, als wären sie im Begriff, an einem wichtigen Fest teilzunehmen. Offensichtlich hatten sie ihre besten Kleider angelegt, um sie willkommen zu heißen. Wie sollte sie den Leuten nur beibringen, daß das Ganze ein Irrtum war?
Die älteste Frau legte die Fingerspitzen zusammen, verbeugte sich ein zweites Mal vor Marrah und holte zu einer formellen Begrüßungsrede aus. Aus der Art, wie die anderen sofort verstummten, war klar ersichtlich, daß sie die Dorfmutter war. »0 große Heilerin, von der Göttin geliebt«, sagte sie, »wir aus dem Dorfe Sebol –«
»Bitte«, protestierte Marrah. »Entschuldigt bitte, aber ihr tut mir zuviel der Ehre. Ich bin keine große Heilerin.«
Die Dorfmutter brach mitten im Satz ab. »Was hast du gesagt?« Marrah wiederholte, daß sie keine speziellen heilenden Fähigkeiten besäße. Ein ungläubiges Murmeln erhob sich unter den Dorfbewohnern, die den Wortwechsel verstanden hatten. »Du hast keine Heilkräfte?« fragte die Dorfmutter.
»Nein.« Marrah schüttelte den Kopf und wäre vor Verlegenheit am liebsten im Erdboden versunken. Hinter sich spürte sie, wie Stavan und Arang krampfhaft versuchten, sich das Lachen zu verkneifen. »Meine Mutter hat mich zwar zur Heilerin ausgebildet, aber ich habe noch eine Menge zu lernen.«
»Das sagst du sicher nur aus Bescheidenheit, oder ?«
»Ich fürchte nicht.«
Die alte Frau schnalzte mit der Zunge und schüttelte bedauernd den Kopf. »Nun, das ist ja ein schönes Durcheinander. Und wir dachten schon, du könntest Nurga heilen. Bist du sicher, daß du keine magischen Kräfte hast? Schließlich bist du die Tochter einer Priesterin aus Shara, nicht wahr?
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