Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
ihren Finger zwischen Nurgas Lippen, und Nurga öffnete den Mund, doch abgesehen davon deutete nichts in ihrem Ausdruck darauf hin, daß sie sich der Anwesenheit der anderen bewußt war. »Siehst du diese weißen Flecken auf ihrer Zunge und ihrem Gaumen ?«
Marrah beugte sich vor, legte einen Finger auf Nurgas Zunge und drückte sie hinunter, um ihren Gaumen zu inspizieren. Die Zunge und die gesamte Mundhöhle der Kranken waren tatsächlich mit kleinen weißen Flecken übersät, die wie Bläschen aussahen. »Hast du schon jemals so was gesehen?«
Marrah war gezwungen, zuzugeben, daß sie völlig ratslos war. Die Dorfmutter blickte sie enttäuscht an. »Und wie ist es hiermit?« Sie hob Nurgas Zopf und wies auf mehrere kleine rote Pusteln in ihrem Nacken, die wie Insektenstiche aussahen.
»Flöhe? « schlug Marrah vor.
»Nein, das glauben wir nicht. Es ist nicht die Jahreszeit, und außerdem hat sie diese Pusteln überall am ganzen Körper. Sie kamen ganz plötzlich, wie ein Ausschlag.«
»Vielleicht ist es ein Ausschlag. Habt ihr schon einmal versucht, sie in Kamillentee zu baden ?«
»Große Göttin!« erwiderte die Dorfmutter scharf. »Für wie dumm hältst du uns eigentlich? Selbstverständlich haben wir sie in Kamille und in Salbei gebadet und in all den anderen üblichen Kräuteressenzen, einschließlich Flußschlamm, der gewöhnlich selbst beim hartnäckigsten Ausschlag hilft, aber nichts von alledem hat etwas genützt, und –« Der Ausdruck auf Marrahs Gesicht ließ sie innehalten. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anfauchen. Du bist schließlich unser Gast. Wir haben dich vom Fluß heruntergeholt, weil wir dachten, du könntest Nurga heilen, und obwohl offensichtlich ist, daß du es nicht kannst, habe ich nicht das Recht, dir die Schuld zuzuschieben.«
Sie legte die Fingerspitzen zusammen und verbeugte sich vor Marrah. »Es ist nur so, daß ich dieses Mädchen wie meine eigene Tochter liebe, und ich hatte inständig gehofft, du könntest ihr helfen.«
»Entschuldigt bitte«, platzte Stavan in gebrochener Alter Sprache dazwischen.
Beide wandten sich zu ihm um, überrascht, ihn sprechen zu hören.
»Flecken«, er zeigte auf die junge Frau, »kleine. In Grasmeer man bekommt.«
Die Dorfmutter wischte sich mit ihrem Ärmel über die Augen und blickte Stavan an, als hätte sie ihn gerade zum ersten Mal bemerkt. »Was redet er da von Flecken und Grasmeeren?«
Stavan gab auf, sich in der Alten Sprache verständlich zu machen. Er fiel in Shambah zurück und bat Marrah, für ihn zu übersetzen. »Bitte sag ihr, daß der Ausschlag auf dem Nacken der Frau wie die Art von Ausschlag aussieht, die Kinder bekommen, wenn sie Ashishna haben.«
»Ashishna?« Das Wort war Hansi. Stavan übersetzte.
»Es bedeutet ›Rotbeerenfieber‹; es ist normalerweise nichts Ernstes. Manchmal werden die Kleinen ziemlich krank, aber nachdem der Ausschlag ausgebrochen ist, sind sie gewöhnlich in drei oder vier Tagen wieder gesund. Ich hatte es als kleiner Junge ebenfalls.« Er zeigte auf eine winzige Narbe auf seinem Arm. »Wenn man das Fieber einmal gehabt hat, bekommt man es nie wieder.«
Rotbeerenfieber, ein hübscher Name für etwas Unangenehmes, aber nicht sonderlich gefährlich. Marrah erzählte der Dorfmutter die gute Neuigkeit und wurde mit dem ersten Lächeln des Morgens belohnt. »Gesegnet sei der Riese!« rief sie, und die Zuschauer murmelten zustimmend. »Frag ihn, wie sein Volk dieses Fieber von roten Beeren kuriert.«
Aber da konnte Stavan nicht weiterhelfen. Soweit er sich erinnern konnte, gab es eine Sorte Minze, die an den Flußufern im Grasmeer wuchs, aus der die Frauen seines Volkes einen Tee zubereiteten, den sie kranken Kindern einflößten, und auch eine bitter schmeckende gelbe Blume, doch er hatte keine dieser Pflanzen auf dem Weg flußabwärts gesehen.
»Er meint es gut«, erklärte Marrah der enttäuschten Dorfmutter, »aber er versteht leider noch weniger von Heilkunst als ich. Trotz-dem hat er mir mehrfach gesagt, ich soll euch versichern, daß Rotbeerenfieber normalerweise nicht behandelt werden muß. Es verschwindet von selbst wieder.«
Das war der beste Rat, den sie anbieten konnten, obwohl sie sich noch eine Weile unterhielten und die Dorfbewohner sogar Proben von Minze und gelben Blumen brachten, um sie Stavan zur Begutachtung zu überlassen. Schließlich gab die Dorfmutter auf.
Als sie wieder in ihre Boote kletterten und sich vom Ufer abstießen, waren alle ungewöhnlich still. Bald
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