Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Jahre später
An ihrem siebzehnten Geburtstag wurde Marrah von ihrer Großmutter in den Tempel gerufen, der sich neben der Traumhöhle erhob, wo Sabalah so viele Jahre zuvor ihre Vision von den Tiermenschen gehabt hatte. Es war ein kalter Wintertag, der gegen Abend eisigen Regen zu bringen versprach, und von Nordosten her wehte eine steife Brise, die den Wellen des Süßwassersees Schaumkrönchen aufsetzte und Wolken über den Himmel jagte, um sie im Westen hinter den Hügeln aufzutürmen.
Als Marrah den Weg hinaufstieg, der zu den Klippen über der Stadt führte, konnte sie zwei Handelsschiffe in rascher Fahrt auf die Küste zukommen sehen, eines davon ein Raspa mit weißen Segeln, das andere ein kleiner Einbaum mit zwei Gestalten darin, die sich tief über ihre Paddel beugten und im Rhythmus eines Meerliedes ruderten – und zwar eines schnellen Liedes, nach dem Anblick zu urteilen.
Einen Moment lang stand Marrah da, mit dem Rücken gegen eine Felswand aus honigfarbenem Granit, und ließ den Wind ihr Haar zerzausen, während sie beobachtete, wie die Boote durch das aufgewühlte Wasser pflügten, und hoffte – so wie sie immer hoffte –, daß Stavan einer der Bootsinsassen war, aber selbst auf diese Entfernung konnte sie erkennen, daß keiner der Händler gelbes Haar hatte. Sie waren alle klein und dunkelhaarig und in farbenfrohe Umhänge gekleidet, die mit Clanzeichen bedruckt waren. Die Stadt Shara erlebte gerade die heiligen Tage des Mittwinters, und trotz der eisigen Winde, die immer um diese Jahreszeit wehten, gab es stets einige abgehärtete Pilger, die es niemals versäumten, nach Shara zu kommen und in den heiligen heißen Quellen zu baden, um zu hören, was das neue Jahr für sie bereithielt.
Marrah fröstelte und zog ihren pelzgefütterten Umhang fester um sich. Sie wünschte, sie wüßte, was ihr das neue Jahr bringen würde, aber sie hatte nicht soviel Glück wie die Pilger. Obwohl sie jetzt schon viermal in der Traumhöhle gewesen war, hatte sich ihr die Zukunft nicht offenbart; und so war es auch allen anderen ergangen, einschließlich Lalah, ihrer Großmutter, der als Priesterin-Königin von Shara eigentlich eine Vision hätte gewährt werden müssen, falls es irgendwelche Visionen gab. Die Göttin Batal war zwar bereit gewesen, den Dorfältesten zu sagen, wie gut ihre Frühjahrsernte ausfallen würde, den Frauen zu raten, ob sie Kinder gebären sollten oder nicht, und einen ungewöhnlich nassen Sommer vorauszusagen, aber wenn es um die Frage nach Stavans Schicksal ging oder die Möglichkeit einer Invasion aus dem Osten, schwieg sie störrisch. Als die Priesterinnen den heiligen Rauch inhaliert, den mit Mohn versetzten Wein getrunken und dann die Göttin gebeten hatten, ihnen zu sagen, ob die Tiermenschen noch immer eine Bedrohung wären, hatte sie ihnen nichts weiter als tiefen Schlaf und Kopfschmerzen beschert. Dieses Fehlen jeglicher Omen war eine schlimme Situation und machte alle nervös, besonders Marrah.
Sie seufzte und gab den Versuch auf, Stavan im Bug des
raspas
stehen zu sehen oder zwischen den Lastkörben in dem Einbaum. Zwei Jahre wartete sie nun schon darauf, daß er aus dem Grasmeer zurückkehrte – zwei Jahre und drei Monate, um genau zu sein. Sie war zu jedem Boot hinuntergeeilt, das im Hafen anlegte, hatte jeden Pilger aus dem Norden gefragt, ob er irgendwelche Neuigkeiten von einem großen, gelbhaarigen Mann gehört hätte, und es war alles vergeblich gewesen. Jetzt war sie wieder ein Jahr älter, und noch immer war Stavan nicht zurückgekommen. Trotz der Tatsache, daß Arang versprochen hatte, an diesem Abend für sie zu tanzen, würde dies in mehr als einer Hinsicht ein kalter Geburtstag werden.
Sie wandte sich vom See ab und ließ ihren Blick über das Flußdelta hinweg nach Shara schweifen, das sich am südlichen Flußufer entlangschlängelte, so wie es schon zu Sabalahs Zeit gewesen war. Der Ort war seit unzähligen Generationen der Schlangengöttin geweiht, und alles an der Stadt zeugte von diesem Glück. In Serpentinen erbaut, die an den Körper einer Schlange erinnerten, bestand die Stadt aus Hunderten von Mutterhäusern und einem Dutzend Tempeln, deren Fassaden sämtlich mit glattem weißen Ton verputzt waren. Jede Wand war liebevoll mit bunten Rauten bemalt und mit fein gemahlenem Basalt überzogen, so daß der erste Eindruck eines Fremden eine lange Reihe glitzernder Schuppen war, die sich durch fruchtbare Felder zog. Die Felder waren braun um diese
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