Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Jahreszeit, und die kurzhaarigen Schafe drängten sich schutzsuchend in kleine Herden zusammen. Sie wurden mit Heu und getrockneten Wicken gefüttert und wirkten plump und fett in ihren dicken Winterfellen.
Der Anblick der Stadt heiterte Marrah ein wenig auf. Es war zwar nicht Xori und würde es auch niemals sein, aber nach zwei Jahren fühlte sie sich inzwischen dort zu Hause – oder zumindest so heimisch, wie es den Umständen nach überhaupt möglich war. Sie sehnte sich immer noch schmerzlich nach ihrer Mutter und Urgroßmutter Ama und all den Freunden, die sie im Westen zurückgelassen hatte, einschließlich Bere, an den sie oft mit Zuneigung dachte; aber jetzt hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben viele Blutsverwandte: Onkel und Tanten und Vettern und Basen, die alle mit großer Liebe an ihrer Mutter gehangen und die auch Marrah augenblicklich in ihr Herz geschlossen hatten.
Zuerst hatte Marrah gezögert, ihre Liebe zu erwidern; es war einfach überwältigend gewesen, nach einer Reise von vielen Monaten aus dem Boot zu klettern und festzustellen, daß eine neue Familie auf sie wartete, aber die Sharaner waren wie die Giraner: umgänglich, herzlich und sehr emotional. Sie hatten geweint und Marrah begeistert umarmt, als sie erfuhren, daß sie Sabalahs Tochter war, und dann hatten sie Arang lachend herumgeschwenkt und ihn von Umarmung zu Umarmung weitergereicht, bis er so verlegen gewesen war, daß Marrah ihn hatte retten müssen.
Als sie sich nach ihrer Großtante, Königin Nasula, erkundigte, hatten sie wieder ein paar Tränen vergossen und ihr erklärt, daß Nasula leider vor langer Zeit gestorben sei, aber Marrah solle nicht traurig sein, denn Nasula wäre eine gute Herrscherin gewesen, und jetzt wäre Marrahs eigene Großmutter die Priesterin-Königin von Shara. Es war eine seltsame Erfahrung, sich plötzlich mit einer neuen Großmutter konfrontiert zu sehen, wenn man bereits eine erwachsene Frau war. Anfangs war Marrah schüchtern gewesen, aber ihre Schüchternheit hatte Lalahs ersten begeisterten Kuß nicht überlebt.
Die Leute von Shara sind gut zu mir gewesen, dachte sie jetzt und hielt einen Moment inne, während sie sich mit einem warmen Gefühl der Dankbarkeit daran erinnerte, was sie für sie getan hatten. Die Priesterinnen und Priester der Stadt lebten im Zentrum des Geschehens, und sie hatten Marrah auf eine Art unterrichtet, wie es Sabalah niemals vermocht hätte. Großonkel Bindar, der aita ihrer Mutter, hatte Marrah in der heiligen Töpferkunst unterwiesen, und jetzt war sie zwar immer noch nicht so geschickt wie die Töpfer von Hita, doch sie konnte einen Gegenstand modellieren und ihn in den Brennofen des Tempels stellen und wußte, daß er in einem Stück wieder herauskommen würde. Sie war sogar für den neuen Tempel verantwortlich, den Tempel, zu dem sie in genau diesem Moment unterwegs war. Natürlich hatte sie ihn nicht eigenhändig erbaut. Das hatte Onkel Bindar getan. Aber sie hatte ihm erklärt, wie man die Tonziegel glättete, so daß sie wie ein einziger Block aussahen, wie man die Fenster mit dünnen Schichten Ton verkleidete und das Ganze anschließend von innen befeuerte, um den Ton zu härten, so wie es die Bewohner von Takash mit ihren Tempeln machten.
Und was Arang betraf: Onkel Bindars Partner, der große Tänzer Enal, hatte ihn als seinen Schüler angenommen, hatte ihn praktisch in dem Moment gepackt, als Arang seinen Fuß an Land setzte. »Der Junge ist zum Tanzen geboren«, hatte Enal Marrah kurzerhand informiert. Er war ein kleiner Mann, klein auf die Art, wie es alle guten Tänzer waren, mit einem kräftigen, geschmeidigen Körper, und er hatte eine Art an sich, andere anzufahren, die einschüchternd sein konnte, bis man ihn richtig kennenlernte. »Sieh nur, wie dein Bruder geht. Sieh, was für ein unvergleichliches Gefühl für Balance er hat. Gib ihn mir, und ich verspreche dir, ich werde etwas aus ihm machen. Wie ist es nur möglich, daß ihr Leute aus dem Westen nicht erkannt habt, was für ein Juwel er ist?«
Marrah mochte Enal zuerst nicht und hatte ihre Zustimmung verweigert, aber sobald Arang von dem Angebot hörte, hatte er ihr keine Ruhe mehr gelassen, bis sie nachgab und ihn Tanzunterricht nehmen ließ. Innerhalb von zwei Monaten hatte Enal Arang soweit, daß er Saltos rückwärts schlagen konnte, und als das erste Jahr zu Ende ging, trat Arang bereits allein auf, wobei er so wundervoll zum Rhythmus der Trommeln und dem süßen Klang der mit drei
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