Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Saiten bespannten Ashads tanzte, daß die Zuschauer den Atem anhielten und ihm Blumen zuwarfen, wenn er fertig war.
»Enal weiß alles, was es über Tanzkunst zu wissen gibt«, hatte Arang Marrah eines Tages erklärt, und dann, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, hatte er ihre Hand ergriffen und hastig hinzugefügt: »Natürlich liebe ich ihn nicht auf die Weise, wie ich Stavan liebe. Mach dir keine Sorgen, Marrah, Stavan wird in diesem Sommer zu uns zurückkommen. Ich weiß, daß er kommen wird.«
Ihr Herz hatte bei seinen Worten einen freudigen Sprung gemacht, und schneller, als es dauerte, um Atem zu holen, war sie überzeugt gewesen, daß die Schlangengöttin Batal Arang erschienen sei und ihm erzählt hätte, daß Stavan auf dem Rückweg vom Grasmeer wäre; und dann war sie wieder zur Vernunft gekommen und hatte eingesehen, daß ihr Bruder sie nur hatte trösten wollen.
Das lag nun schon über ein Jahr zurück. Jetzt hoffte sie wieder, obwohl sie wußte, daß es töricht war, sich Hoffnungen zu machen, und dennoch stand sie hier oben auf dem Klippenweg und blickte auf den See hinaus, statt den Hügel hinaufzueilen, um zu sehen, was ihre Großmutter von ihr wollte. Sie trödelte ganz bewußt, ließ ihre Großmutter unnötig lange warten, denn solange sie auf dem Klippenpfad war, konnte sie sich weiterhin einreden, daß sie bei ihrer Ankunft Neuigkeiten erwarteten. Natürlich war das nicht der Fall. Vielleicht würde es niemals Nachrichten von Stavan geben, aber wenn man jemanden so sehr liebte, wie sie Stavan liebte, gab man nicht so schnell auf.
Marrah wandte sich vom Anblick der Stadt ab und kletterte weiter den Pfad hinauf, tief in Gedanken versunken. Sie wußte, es war selbstsüchtig, düster vor sich hin zu grübeln, wenn es so viele schöne Dinge auf der Welt gab und so viele Menschen, die sie liebten, aber es war hart, einen weiteren Geburtstag ohne ein Wort von Stavan zu überstehen. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich werde alt, dachte sie und malte sich aus, wie sie irgendwann, viele Jahre später, faltig und krumm und nachdem sie ihr ganzes Leben verschwendet hatte, auf einen grauhaarigen Stavan zutappen würde, der sie nicht erkannte.
Plötzlich blieb Marrah mitten auf dem Weg stehen und fing an zu lachen. Eine Schar erschrockener Seemöwen ergriff bei dem Geräusch die Flucht und flog laut kreischend davon. Manchmal mußte man wohl ganz tief in Selbstmitleid versinken, um darüber hinwegzukommen. Ihr ganzes Leben verschwendet, also wirklich! Sie war erst siebzehn, und sie würde – ob mit oder ohne Stavan – ein interessantes Leben führen, viele Kinder bekommen und Liebhaber haben, wenn sie sie wollte, und vielleicht sogar eines Tages einen ständigen Partner. Plötzlich war sie wieder wesentlich heiterer gestimmt, und sie eilte zum Tempel hinunter, beschämt, ihre Großmutter so lange warten zu lassen.
Bald sah sie ihn, auf der Kuppe eines Hügels direkt über dem Eingang zur Traumhöhle. Es war ein ungewöhnlicher Tempel, vielleicht der ungewöhnlichste östlich des Landes der Hita. Groß genug, um mehr als ein Dutzend Betende aufzunehmen, war der Tempel in Form einer Brust erbaut worden, um die sich die Schlangengöttin wand, deren Kopf sich fünfzehn Handbreit über dem Dach erhob. Wie alle Schlangenskulpturen von Shara hatte auch diese Batal eine menschliche Nase, aber ihre Augen waren die runden, hypnotischen Augen einer Schlange. Als Marrah hinaufschaute, schien sich Batals langer Hals im Wind zu wiegen. Es war natürlich nur eine optische Täuschung, verursacht durch die Wolken, die sich hinter ihrem Kopf ballten, aber dennoch beeindruckend.
Alles dies hätte schon ausgereicht, um den Tempel zu einem der Wunder des Süßwassersees zu machen, aber es gab noch mehr. Der offizielle Name des Gebäudes lautete »Tempel der Kinderträume«. Auf Marrahs Vorschlag hin hatte man die Kinder von Shara eingeladen, Bilder von ihren Träumen in den weichen Ton von Batals gewundenem Leib einzuritzen, bevor der Ton gebrannt wurde. Die Kleinsten hatten nur Handabdrücke hinterlassen, aber einige der älteren Kinder hatten phantastische Szenen gezeichnet: fliegende Vogelfrauen, sprechende Fische, Blumen mit Gesichtern und vieles mehr. Wenn die Pilger, die in der heiligen Quelle badeten, zum Tempel hinaufschauten, sahen sie Spiralen voller Träume wie erstarrten Rauch in die Luft aufsteigen.
Im Moment waren ein halbes Dutzend Pilger im Wasser, einige davon eindeutig krank, während andere
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