Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
einfach um des göttlichen Segens willen badeten und weil sie sich Glück davon erhofften. Als Marrah an der Quelle vorbeiging, riefen sie ihr formelle Begrüßungen zu und legten ihre rosigen, dampfenden Fingerspitzen zum universellen Zeichen des Respekts zusammen. Marrah kam der Gedanke, daß sie offenbar selbst dann, wenn sie in Eile war, in einen ganz gewöhnlichen Umhang gekleidet, mit windzerzaustem Haar und Stiefeln, die dringend geflickt werden mußten, für die Pilger noch als Priesterin erkennbar war. Als sie die letzten paar Stufen zum Tempel hinaufkletterte, fragte sie sich, was es wohl war, was sie verriet.
»Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen«, sagte Lalah, als Marrah den ledernen Türvorhang beiseite schob. Sie blickte Marrah scharf an, als überlegte sie, ob sie ihr eine Standpauke über die Tugend der Pünktlichkeit halten sollte, aber es waren Gäste anwesend, und Königin Lalah hielt im allgemeinen nichts davon, ihre Angehörigen in Anwesenheit von Fremden zu kritisieren. Als sie sich zu den beiden Frauen umwandte, die zu ihrer Linken saßen, lächelte sie mit einstudierter Höflichkeit. Man hätte die Königin schon ziemlich gut kennen müssen, um zu merken, daß sie verärgert war.
»So, nachdem meine Enkelin Marrah nun hier ist, können wir wohl anfangen.« Die Frauen erwiderten ihr Lächeln, vollkommen beruhigt, was genau das war, was Lalah beabsichtigt hatte. Als die siebenundzwanzigste Priesterin in direkter Linie, ein Amt, das seit Menschengedenken von der Mutter an die Tochter oder von Schwester zu Schwester weitergegeben wurde, wußte Lalah aus Shara, daß sie immer das Risiko einging, die Leute einzuschüchtern, aber zum Glück sah sie mütterlich und harmlos aus, was jedoch nicht bedeutete, daß es ihr an einem scharfen Verstand gefehlt hätte oder an der Fähigkeit, so schnell wie Batal selbst zu reagieren, wenn es galt, Disziplin und Ordnung aufrechtzuerhalten. In ihrer Jugend war sie für ihren Sarkasmus, ihre schnelle Auffassungsgabe und ihre scharfe Zunge bekannt gewesen, aber mit dem Alter war die Selbstbeherrschung gekommen, und jetzt hielten Fremde sie oft fälschlicherweise für eine sanftmütige alte Frau.
Marrah wußte es besser. Lalahs Gesicht war ein Spiegel, der zeigte, wie sie selbst vielleicht in etwa vierzig Jahren sein könnte. Obwohl ihre Großmutter größer als sie war, hatte Marrah ihre lange, schmale Nase, die vollen Lippen, das lockige Haar und die vorstehenden Wangenknochen von ihr geerbt. Hinter dem schönen Gesicht verbargen sich Ungeduld, leidenschaftliche Neugier und eine Sehnsucht nach Abenteuern, die sie befriedigte, indem sie Reisende ausfragte, bis sie zu müde waren, um weiterzuerzählen. Marrah hoffte, daß sich ihre Großmutter an diesem Nachmittag kurz fassen würde. Wenn sie nicht rechtzeitig in die Stadt zurücckam für das Festmahl und die Tänze, die ihr zu Ehren stattfanden, würden alle enttäuscht sein.
Zu ihrer Erleichterung kam Königin Lalah ohne Umschweife auf den Punkt zu sprechen. »Erzählt Marrah, was ihr mir gerade erzählt habt«, schlug sie vor, wobei sie den Fremden mit einer Handbewegung bedeutete, näher an das Kohlebecken aus Ton zu rücken und sich zu wärmen. Die Frauen näherten sich den glühenden Kohlen und hielten ihre Hände darüber. Beide trugen derbe Lederstiefel und lange Kapuzenkleider, die aus Streifen von schlammfarbenem Pelz, gemischt mit Flachs, gewebt waren. Marrah hatte das Gefühl, diese Art Pelz schon einmal gesehen zu haben, konnte sich im Moment jedoch nicht erinnern, wo das gewesen war. Auf jeden Fall war offensichtlich, daß die Frauen von weit her kamen. Niemand in Shara trug Kapuzenkleider; sie sahen beneidenswert warm aus.
Die Ältere räusperte sich und verbeugte sich auf eine seltsame, knicksende Art erst vor Lalah, dann vor Marrah und schließlich vor ihrer Gefährtin, als wüßte sie nicht, ob sie sie ebenfalls grüßen oder völlig übergehen sollte. Sie war eine Frau vom Land, nicht an die höflichen Umgangsformen der Stadt gewöhnt.
»Mutter Marrah«, begann sie, obwohl für jeden klar gewesen wäre, daß Marrah um einiges jünger als sie war. »Mein Name ist Nisig. Meine Schwester und ich kommen aus dem Dorf Nemsha, das am Rand der Welt liegt. Wir sind Bauern, meine Schwester und Mutter und ich; wir pflanzen hauptsächlich Gerste an, die gut gedeiht, weil es in unserem Land kälter ist.«
Marrah starrte sie erstaunt an. Die Frau sprach fließend Sham-bah. »Kommt ihr vom Rande des
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