Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
Grasmeeres?« fragte sie aufgeregt, in der Hoffnung, die Frauen brächten vielleicht Nachrichten von Stavan.
Nisig brach mitten im Satz ab, deutlich verwirrt über ihre Frage. »Ich habe noch niemals von einem solchen Meer gehört, liebe Mutter, aber dort, wo wir leben, gibt es viel Gras. Der Wald endet nicht weit von unserem Dorf, und keiner weiß, wo er wieder anfängt.« Sie blickte auf ihre Schwester, die zustimmend nickte. Ermutigt fuhr sie fort.
»Vor zwei Jahren, im Monat des ersten Frosts, kam eines Tages ein Mann aus dem Wald und bat um ein warmes Lager an unserem Feuer. Er sah sonderbar aus – sehr groß –, aber in jenen Tagen hatten wir keine Angst vor Fremden, und so gaben wir ihm zu essen, und als er wieder aufbrach, gaben ihm unsere Dorfältesten getroccnetes Fleisch mit und einen wärmenden Umhang, weil er sagte, er wolle weiter nach Norden, und weil der Winter bevorstand. Als Dank für unsere Hilfe überbrachte er uns eine Warnung. Eine große Priesterin namens Marrah aus Xori hätte eine Vision gehabt, daß unsere Welt vor der Zerstörung stände. Männer, die auf den Rücken irgendwelcher großen Tiere säßen«, sie hielt inne und lächelte schüchtern, als wäre es ihr peinlich, von einer solch albernen Vorstellung zu berichten, »würden aus dem Osten kommen und uns töten, deshalb sollten wir besser sofort unser Dorf verlassen, bevor sie uns vernichten könnten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nun, wir alle hielten ihn für verrückt, und das haben wir ihm auch gesagt. ›Danke‹, sagten wir, ›aber wir lieben dieses Land, deshalb werden wir nirgendwo hingehen.‹ Als er sah, daß wir uns nicht von der Stelle rühren würden, wurde er wütend und nannte uns eine Herde dummer Schafe, aber da er ein Verrückter war und somit unter dem besonderen Schutz der Göttin stand, gaben wir ihm freundliche Antworten. Ich glaube, er muß uns dafür gemocht haben, denn statt fluchend davonzumarschieren, erteilte er uns noch eine Warnung, bevor er ging. ›Falls irgend etwas Schlimmes passiert‹, sagte er, ›geht in die Stadt Shambah und laßt es die Leute wissen; und nachdem ihr den Ältesten Bescheid gesagt habt, geht weiter in die Stadt Shara und fragt nach Marrah aus Xori, und wenn ihr sie findet, sagt ihr, daß Stavan der Hansi ihr seine ganze Liebe schickt, und ...‹ Was ist, liebe Mutter, bist du krank? «
Die Frage war durchaus angebracht. Marrah hatte laut aufgeschrien bei der Erwähnung von Stavans Namen, und jetzt hockte sie auf einer der Tonbänke, bleich im Gesicht und am ganzen Körper zitternd.
»Nein«, erwiderte sie erschüttert, »bitte sprich weiter. Was hat er sonst noch gesagt? Bitte, sag es mir schnell.«
»Nichts, Mutter. Das war die ganze Botschaft. Tut mir leid. Hätte er noch mehr sagen sollen? «
»Du vergißt die Samen «, warf ihre Schwester ein. »Gib der Mutter Priesterin die Samen, du dumme Ziege.«
Nisig wurde krebsrot im Gesicht vor Verlegenheit. Nachdem sie ungeschickt in der Ledertasche gesucht hatte, die an ihrem Gürtel hing, zog sie ein Leinensäckchen mit Samen heraus und reichte es Marrah. »Der Fremde sagte, wir sollten dir das hier geben, Mutter; er meinte, du wüßtest schon, was damit zu tun ist. Er sagte, es wären Beerensamen, aber es tut mir leid, sagen zu müssen, daß er sich geirrt hat. Jeder Bauer könnte dir erklären, daß dies hier zwei verschiedene Sorten von Samen sind, und keine von ihnen wird Beeren produzieren. Man braucht ja nur zu sehen, wie groß sie sind. Beerensamen sind winzig kleine Körnchen, die ...« Sie verstummte unvermittelt und blickte Marrah mit unverhüllter Neugier an, als diese eifrig die Samen in ihre Handfläche schüttete.
»Marrah«, sagte Lalah scharf, »dafür wird später noch Zeit genug sein. Ich weiß, dies ist die Nachricht, auf die du so lange gewartet hast, aber trockne deine Freudentränen und hör zu. Diese Frauen haben uns noch mehr zu berichten, und es ist nichts, was zu Freude Anlaß gibt.«
Ernüchtert durch den Tadel ihrer Großmutter, schob Marrah die Samen wieder in das Säckchen zurück.
»Sagt meiner Enkelin, weshalb ihr so weit in den Süden nach Shara gekommen seid.«
Nisig schluckte hart und blickte ihre Schwester an. »Im vorletzten Sommer tauchten Fremde in unserem Dorf auf. Sie waren keine Händler, weil es alte Leute und kleine Kinder unter ihnen gab, und sie trugen Dinge bei sich, die sie nicht verkaufen wollten. Einige von ihnen trieben ein paar Kühe oder Ziegen, und andere
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