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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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schleppten Tempelgöttinnen auf dem Rücken. Sie sprachen nicht unsere Sprache, aber wir merkten deutlich, daß sie vor irgend etwas große Angst hatten. Sie zeigten immer wieder Richtung Osten und schrien etwas, aber wir konnten nicht verstehen, was passiert war, deshalb gaben wir ihnen zu essen und schauten zu, wie sie weiterzogen. Nach einer Weile kam niemand mehr, und in unserem Dorf ging alles wieder seinen geregelten Gang, und –«
    Wieder schluckte sie hart und preßte die Lippen zusammen, als versuchte sie, nicht in Tränen auszubrechen. »Vor ein paar Monaten geschah es, daß ein ganzes Dorf östlich von uns einfach verschwand – allesamt: jede Frau, jeder Mann, jedes Kind. Ich hatte zwei Brüder und fünf Vettern in dem Dorf. Früher kamen sie regelmäßig zu unseren Festen, und manchmal halfen wir uns gegenseitig beim Einbringen der Ernte.«
    Sie blickte von Lalah zu Marrah. »Wir sahen den Rauch in Nemsha, doch bis wir dort ankamen, waren sämtliche Clanhäuser zu Schutt und Asche verbrannt. Die Gerste war plattgetrampelt, und die Kühe waren verschwunden. Wir fanden die Dorfhunde mit aufgeschlitzten Kehlen, und wir fanden das hier.« Sie ging zu Marrah, verbeugte sich vor ihr und legte etwas in ihre Hand. Es war ein kleines Stückchen Kupfer, so dünn wie ein Fingernagel, von Rauch geschwärzt.
    »Hast du eine Ahnung, was das ist?« fragte Lalah.
    Marrah nickte nur; sie fühlte sich zu elend, um zu sprechen.
    »Nun, dann sitz nicht einfach stumm da. Sag es uns.«
    »Es ist das Tier, das aus dem Osten kommt«, erklärte Marrah tonlos. »Man nennt es Pferd.« Sie reichte ihrer Großmutter das winzige Figürchen. »Es ist ein böser Talisman, er gehört nicht in einen Tempel, der den Träumen von Kindern geweiht ist.«
    Lalah drehte die Figur in ihrer Hand und inspizierte sie von allen Seiten. Dann erhob sie sich ohne ein weiteres Wort auf die Füße, ging zum Kohlenbecken und warf das Pferd auf die heißen Kohlen. Das Kupfer schmolz fast augenblicklich, wobei eine Fahne grünlichen Rauchs aufstieg. Lalah rümpfte angewidert die Nase. »Es hinterläßt einen unangenehmen Geruch.« Sie zeigte auf die ledernen Fenstervorhänge. »Zieht sie auf und laß etwas frische Luft herein.«
    Der Rest des Winters war lang und ungewöhnlich kalt. Die beiden Bäuerinnen, die die Nachricht von dem niedergebrannten Dorf gebracht hatten, blieben nur lange genug, um in der heiligen Quelle zu baden, bevor sie an Bord eines Schiffes gingen, das zurück in Richtung Norden segelte, aber wie die bitterkalten Winde, so sollte auch ihre Anwesenheit noch lange nachwirken.
    Der Ältestenrat beriet sich mehrere Tage lang ununterbrochen und versuchte zu entscheiden, was zu tun war, doch wie Stavan vorausgesehen hatte, konnten sie keine praktischen Lösungen anbieten. In den Straßen von Shara standen beunruhigte Leute in kleinen Gruppen zusammen, und die heiligen Tage des Mittwinters, die gewöhnlich von einer festlichen Stimmung erfüllt waren, wurden auf eine Weise gefeiert, die bei allen das vage Gefühl hinterließ, nicht ganz bei der Sache zu sein. Das Herz der Stadt schien nicht mehr im gewohnten Takt zu schlagen, von irgend etwas in seiner Harmonie gestört, einer Harmonie, die auch Arangs Tanzkünste nicht wiederherstellen konnten.
    Jeder wußte von der Prophezeiung, und jetzt begann die Gerüchteküche zu kochen: Ein großes Feuer sei im Osten ausgebrochen und vernichte alles; Shambah sei völlig zerstört worden; alle Städte
    332 entlang dem Rauchfluß seien zu Schutt und Asche niedergebrannt. Die Sharaner waren große Märchenerzähler, und während sie in ihren gemütlichen Häusern saßen und warmen, gewürzten Wein tranken, erfanden sie wilde Phantasien wie Kinder, die sich gegenseitig mit Gruselgeschichten angst machten, nachdem die Erwachsenen schlafen gegangen waren. So empfand Marrah es zumindest, als sie die Schilderungen hörte. Hatte das Ende der Welt wirklich begonnen? Wenn dem so war, dann hätte man es jedenfalls nicht vermutet nach der Art, wie eben jene Geschichtenerzähler seelenruhig ihrer täglichen Arbeit nachgingen.
    Gelegentlich hörte Marrah jemanden einen vernünftigen Vor-schlag äußern, wie zum Beispiel, Wachen um die Stadt zu postieren, doch wenn es darum ging, Lose zu ziehen, um zu sehen, wer dort draußen die ganze Nacht hindurch in der Kälte stehen würde, gab es nie irgendwelche Interessenten. Wenn sie selbst drastischere Maßnahmen vorschlug – zum Beispiel, hohe Mauern um Shara zu bauen

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