Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
oder sämtliche Bewohner in die Felsen oberhalb des Sees zu evakuieren –, machten die Leute höfliche Bemerkungen, aber sie konnte sehen, daß sogar ihre eigene Großmutter glaubte, sie wäre verrückt geworden.
Shara evakuieren? hatte Lalah entrüstet gerufen. Eine ganze Stadt verlegen, die seit unzähligen Generationen das Zentrum der zivilisierten Welt war? Da könnte man ja ebensogut versuchen, den Süßwassersee auszuheben und ihn in den Westen zu verlegen oder den Mond vom Himmel zu pflücken und ihn als Lampe zu benutzen. Ganz gleich, welche Visionen die Priesterinnen hatten, ganz gleich, welche Warnungen Sabalah aus dem Westen übermittelt hatte oder was an Nachrichten aus dem Norden kam, Lalah war nicht gewillt, die Spirale der Lebensenergie zwischen Mauern zu sperren oder die große Schlange der Stadt von heiligem Grund und Boden fortzubewegen. Was auch immer kam, sie würden es überstehen.
»Wenn du in Shara lebst«, erklärte sie Marrah, »lebst du unter dem Schutz von Batal. Diese Sache mit den Tiermenschen mag vielleicht unangenehm werden, aber die Schlangengöttin wird uns schon zeigen, was zu tun ist, wenn die Zeit kommt.«
Nachdem Marrah bei ihrer Großmutter nur auf Widerstand gestoßen war, kam sie zu der Überzeugung, Lalahs Mut müsse auf einem Mangel an Vorstellungskraft beruhen. Dieselben beruhigenden Versicherungen hatte sie auch schon zu hören bekommen, als sie vor zwei Jahren mit Arang in die Stadt gekommen war. Damals hatte sich der Ältestenrat ebenfalls zu einer Notsitzung zusammengefunden, und die Leute hatten einander genau wie jetzt mit Geschichten von drohendem Unheil angst gemacht, und was war bei all dem herausgekommen? Nichts. Bald war das Leben wieder in seinen gewohnten Bahnen verlaufen, und bis auf die Priesterin, die in der Traumhöhle lag und die Göttin Batal zum Sprechen zu bewegen versuchte, hatte jedermann wieder begonnen, an angenehmere Dinge zu denken, an Frühlingsfeste, Volljährigkeitsfeiern, das Wetter und die Ernte.
Zweifellos würde sich derselbe Vorgang wiederholen. Die Leute würden sich eine Zeitlang Sorgen machen, und Gerüchte würden von Haus zu Haus verbreitet werden, aber bis zum Frühling wäre ihnen das Thema langweilig geworden. Das unglückselige Dorf würde zwar nicht völlig in Vergessenheit geraten, aber an die abgeschlachteten Hunde und die plattgewalzten Felder würden sich die Leute irgendwann nicht mehr erinnern. Statt dessen würden sie daran denken, ihre eigenen Felder zu bestellen. Lose würden gezogen, die Gemeinschaft für Fruchtbarkeit würde ihre Trommeln stimmen und Blumen pflücken, Seetang würde herbeigeschafft werden, um den Boden zu düngen, und keiner würde mehr von den Schwestern reden, die aus dem Norden gekommen waren, um von verbrannten Mutterhäusern zu berichten.
»Tut etwas!« bat Marrah eindringlich bei den Ratssitzungen. »Unternehmt jetzt etwas, bevor es zu spät ist!« Aber es erging ihr wie jener jungen Priesterin in dem Gedenklied, die der Göttin Erde ein magisches Auge gestohlen hatte, ohne darauf zu warten, daß es ihr geschenkt wurde. Sie konnte die Zukunft sehen, doch niemand wollte auf sie hören. Das heißt – die Mitglieder des Ältestenrats hörten Marrah zwar respektvoll an, aber sie begriffen nicht. Nur wenige unter ihnen waren jemals weiter nördlich als bis zum Rauchfluß gekommen, und die meisten hatten ihr ganzes Leben in Shara zugebracht, ohne jemals außer Sichtweite der heiligen Serpentinen der Stadt zu wandern. Das Grasland nördlich von Shambah schien für sie eher wie ein Traum als wie ein realer Ort. Sie waren weise, aber sie hatten keine Ahnung, wie schnell sich Männer zu Pferde vorwärtsbewegen konnten. Marrah hätte es selbst nicht verstanden, wenn sie nicht Nacht für Nacht neben Stavan gelegen und seinen Schilderungen zugehört hätte.
Nach einer Weile gab sie verzweifelt auf und wohnte auch nicht mehr den Ratssitzungen bei. Resigniert zog sie sich in eine der Tempelwerkstätten zurück und verbrachte den Rest des Winters mit Töpfern.
Wenn Marrah mit ihrer Arbeit beschäftigt war, kreisten ihre Gedanken ausschließlich um den Ton. Manchmal sprach sie dabei ein Gebet: an Amonah, wenn die Tonschale mit Wassersymbolen dekoriert werden sollte, an Xori, wenn Vögel auf den Rand flogen, an Batal oder Hessa, wenn sie vorhatte, das Gefäß mit einer Schlange zu schmücken, die sich vom Boden bis zum Rand ringelte. Häufig bat sie eine der Göttinnen, ihr die Hand zu führen und ihr die
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