Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
du noch Jungfrau bist?« Dalish lächelte leicht, aber es war kein echtes Lächeln. » Zulike sagte, sie wäre sehr überrascht, zu sehen, daß du noch dein Jungfernhäutchen hättest, besonders, da du so alt seist, aber ich habe ihr erzählt, du hättest deinen Vater angefleht, sämtliche Heiratsangebote auszuschlagen, damit du dein Leben deinem neuen Neffen widmen könntest, und sie schien mächtig beeindruckt. Natürlich weiß sie nicht das geringste darüber, wie unser Volk die Lust teilt. Bei den Hansi warten die Männer nie damit, in eine Frau einzudringen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Nomaden jemals ein Mädchen über zwölf gesehen haben, dessen Jungfernhäutchen noch intakt war.«
Marrah hatte keine Ahnung, worüber Dalish redete, und sie sagte es ihr auch. Sie war ungeduldig und beunruhigt, und allmählich wurde sie auch wütend. Sie wünschte, Dalish würde aufhören, sie so merkwürdig anzusehen. Sie mußte die Wahrheit wissen, aber Dalish wich ihr weiterhin aus.
»Ein Jungfernhäutchen.« Wieder wischte Dalish sich mit ihrem Schal über die Stirn. »Du weißt schon, dieses kleine Stückchen Haut, das eine Frau gewöhnlich tief in ihrem Schoß hat und das zerreißt, wenn sie einen Mann das erste Mal in sich eindringen läßt. Allen Berichten zufolge scheint deines ein bißchen abgenutzt zu sein, aber es ist immer noch da, was das Entscheidende ist. Die Nomaden verehren die Jungfräulichkeit einer Frau, und jeder Mann möchte der erste sein, der ihr Häutchen zerreißt.«
Marrah war zu erstaunt, um zu sprechen. Schließlich fand sie ihre Sprache wieder. »Das ist das Abscheulichste, was ich je gehört habe! Kein Wunder, daß du es mir nicht erzählen wolltest.«
Dalish biß sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. Ihre Miene wurde plötzlich steinern, und als sie den Kopf hob, um Marrah anzusehen, waren ihre Augen hart. »Ich wünschte, das wäre alles, aber Tatsache ist, daß du erst die Hälfte gehört hast. Zuhan hat mich hergeschickt, um dir zu sagen, daß er dich seinem Sohn, Vlahan, gibt.« Sie sprach hastig. »Du hast Glück: Du wirst Vlahans Ehefrau sein, nicht seine Konkubine. Die Hochzeitszeremonie findet noch heute nachmittag statt, und es wird dir überhaupt nichts nützen, wenn du einen Wutanfall bekommst oder schreist oder Einwände erhebst, denn es gibt nichts, was du oder ich oder sonst irgend jemand dagegen tun könnte.«
Marrah fühlte sich, als wäre sie geschlagen worden. Sie sprang auf die Füße. »Das kann nicht dein Ernst sein. Das ist ja furchtbar.« Sie wanderte aufgebracht im Zelt hin und her. »Nein, ich kann das nicht tun.«
Dalish erhob sich ebenfalls und verschränkte die Arme vor der Brust, und als sie sprach, klang ihre Stimme eisig. »Sei ruhig! Was erwartest du denn von mir? Erwartest du, daß ich zu Zuhan zurüccgehe und ihm erkläre, du hättest seinen Sohn zurückgewiesen? Du hast noch großes Glück gehabt. Sie hätten dir inzwischen die Kehle durchschneiden können, doch statt dessen ehrt Zuhan dich, indem er dich seinem Sohn zur Ehefrau gibt.«
»Ehrt mich, pah!«
»Jawohl, er ehrt dich.« Dalishs Stimme brach, und sie fing an zu weinen. »Ich kann dir nicht helfen, Marrah. Ich möchte es ja, aber ich kann es nicht. Wenn ich Zuhan sage, daß du dich weigerst, wird er uns wahrscheinlich beide töten. Vlahan ist wahrlich kein Prachtstück, aber du wirst ihn eben einfach heiraten müssen.« Sie packte Marrah bei den Schultern, als wollte sie sie schütteln, doch statt dessen zog sie sie an sich. »Liebe Freundin, es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Es –« Vielleicht wollte sie ein drittes Mal sagen, wie leid es ihr täte, aber sie bekam die Worte nicht über die Lippen. Ihre Stimme versagte mitten im Satz. Dann legte sie ihre Hände um Marrahs Wangen und küßte sie auf die Stirn. »Sie werden kurz vor Sonnenuntergang kommen, um dich zu holen. Sei tapfer, Liebes.« Und damit wandte sie sich hastig ab und floh aus dem Zelt.
16. KAPITEL
Kurz vor Sonnenuntergang begann ein trockener Wind zu wehen. Er kam aus dem Westen, verstreute Samen in alle Richtungen und peitschte die Sommergräser, bis sie ihr letztes bißchen Grün verloren. Die Mauersegler ließen sich von ihm treiben, während sie Jagd auf Insekten machten; die grauen Rebhühner und schwarzköpfigen Wachteln suchten Schutz vor ihm; die Pferde und Rinder kehrten ihm den Rücken zu, und selbst die Schafe waren so klug, ihre Augen gegen die Staubwolken zu schließen. Es war zwar keiner
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