Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
nicht länger, daß sie sie töten würden, aber sie hatte den Verdacht, daß sie nicht glücklich sein würde, wenn sie erfuhr, warum die Frauen sie so ausstaffiert hatten.
Der Tag wurde wärmer, und die Luft im Zelt heizte sich auf. Bis die Schatten allmählich länger wurden, fühlte Marrah sich wie jemand, der gestolpert und in einen Trog mit juckender Salbe gefallen war, aber jedesmal, wenn sie den Schal abzulegen oder ihre Beinlinge heraufzuziehen versuchte, um sich kräftig zu kratzen, steckte irgendeine Frau den Kopf zur Zeltklappe herein und schnalzte mißbilligend mit der Zunge.
Später am Nachmittag erschien endlich Dalish. Ein Blick in ihr Gesicht, und Marrah wußte, daß sie keine guten Nachrichten brachte. Sie sprang auf die Füße und ergriff Dalishs Hände. »Was haben sie mit Arang gemacht?« rief sie ängstlich. »Haben sie ihm weh getan?«
»Keine Sorge. Arang geht es gut. Sie füttern ihn gerade mit Honig und gerösteten Grashüpfern.«
»Grashüpfer? Ach, der arme Arang. Er verabscheut sie so sehr! « Ihre Reaktion war nicht besonders vernünftig, und sie wußte es auch. Was machten schon Grashüpfer, wenn Arangs Leben auf dem Spiel stand.
Dalish lächelte schwach, und die roten Troddeln auf ihrer Stirn schwangen wie eine Reihe stummer Glocken. »Schon möglich, daß Arang Grashüpfer verabscheut, aber er ist sehr tapfer. Genau in diesem Moment sitzt er neben Zuhan und mampft vor sich hin wie ein kleiner Hansi-Häuptling. Hin und wieder ehren sie ihn mit einer anderen ekelerregenden Spezialität, und er ißt auch diese, ohne mit der Wimper zu zucken, und bedankt sich höflich.«
»Sie ehren ihn? « Marrah war so erleichtert, daß sie kaum sprechen konnte. Sie setzte sich und vergrub einen Moment lang ihr Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufschaute, erwiderte Dalish ihren Blick mit verständnisvollem Lächeln. »Dann müssen sie glauben, er wäre wirklich Achans Sohn«, murmelte Marrah.
»Ja, das tun sie, zum Glück für uns.« Dalish setzte sich neben sie. »Zuhan hat nicht nur die ganze Geschichte geschluckt, er hat auch beschlossen, deinen Bruder zu adoptieren und in den Stamm aufzunehmen.« Sie wischte sich mit einem Zipfel ihres Schals über das Gesicht und seufzte. »Ich persönlich finde, es grenzt fast an ein Wunder. Arang sieht ebensowenig wie Zuhans Enkel aus wie ich, aber der alte Mann ist ganz versessen auf einen Erben. Er weiß, die Unterhäuptlinge werden niemals Vlahan, dem Bastard, gehorchen, und was deinen früheren Liebhaber angeht –«, sie dämpfte ihre Stimme und blickte sich mißtrauisch um, »aber schweigen wir lieber darüber.«
Marrah sehnte sich danach, zu fragen, ob sie Stavan gesehen hätte, doch der Ausdruck auf Dalishs Gesicht sagte ihr, daß ihre Frage nicht willkommen wäre. Angespannte Stille breitete sich aus.
»Und wann findet diese Adoptionszeremonie statt?«
»Jetzt gleich.«
»Werde ich auch dabeisein dürfen? «
»Alle werden dabeisein. Die Sache ist folgendermaßen: Zuhan ist alt, und es geht das Gerücht um, daß sein Gesundheitszustand nicht der beste ist. Er hat nicht die Absicht zu sterben, bevor er jeden einzelnen Mann, jede Frau und jedes Kind in diesem Stamm gezwungen hat, deinen Bruder als seinen legitimen Enkel anzuerkennen.«
Plötzlich begriff Marrah, warum sie gebadet und mit Butter eingeschmiert worden war. Sie zog die Ränder ihrer Beinlinge hoch und gönnte sich den Luxus, sich ausgiebig zu kratzen. Offensichtlich hatte sie sich völlig grundlos Sorgen gemacht. »Deshalb also haben sie mein Haar eingeschmiert und mich in diese seltsame Kostümierung gesteckt.«
Unbehagliches Schweigen breitete sich aus. Dalish lächelte nicht, wie Marrah es erwartet hatte. Statt dessen blickte sie auf ihre Hände. »Nicht ganz.« Sie schaute wieder auf, und ihr Gesicht verzog sich schmerzlich. »Ich hätte es dir gleich zu Anfang sagen sollen, aber es ist nicht leicht, eine solche Nachricht zu überbringen.«
Etwas Kaltes und Beklemmendes erfüllte das Zelt. »Wovon redest du? Was für eine Nachricht?«
Wieder wischte sich Dalish den Schweiß von der Stirn. Ihre Augen hatten einen schuldbewußten Ausdruck, der Marrah gar nicht gefiel. Es war ein Ausdruck der Mittäterschaft und des Verrats. »Sie haben dich in weiße Wolle gekleidet, weil –« Sie brach ab und begann erneut, und Marrah hatte das deutliche Gefühl, daß sie Zeit zu gewinnen versuchte. »Hast du gewußt, daß die alte Zulike, Zuhans Ehefrau, öffentlich erklärt hat, daß
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