Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
sein Gesicht mit hastigen kleinen Küssen. »Du lieber, mutiger, verrückter Mann! Du hast die ganze lange Zeit darauf gewartet, mit mir zu sprechen, und dann kommst du direkt in Vlahans Zelt, um mich zu holen! Was, wenn Vlahan aufgewacht wäre ?«
Stavan lachte. »Ich bin vielleicht verrückt, aber nicht dumm. Ich habe dem Bastard ein Schlafmittel in seinen Kersek geschüttet. Heute nacht könnte sogar eine Herde wilder Hengste durch sein Zelt galoppieren, und er würde seelenruhig weiterschnarchen.« Er nahm ihre Hand. »Aber komm jetzt. Wir können hier nicht stehenbleiben und uns unterhalten. Dafür wird später noch Zeit sein.« Er führte sie erneut durch das hohe, süß duftende Gras, bewegte sich dabei so schnell, daß Marrah kein Atem blieb, um ihn um eine ausführlichere Erklärung zu bitten. Bald darauf hörte sie ein Pferd leise wiehern und roch die warme, moschusähnliche Ausdünstung seines Körpers. Wenige Augenblicke später trafen sie auf eine graue Stute, die fertig gezäumt bereitstand, mit einem schwarzen Wallach neben sich, der Fußfesseln trug.
»Steig auf«, befahl Stavan und bot ihr seine verschränkten Hände an. »Ich möchte irgendwo mit dir reden, wo keine Gefahr besteht, daß die Wachen über uns stolpern.« Marrah zog sich auf den Rücken der Stute, und Stavan schwang sich auf den Wallach, und sie ritten in schnellem Trab durch die Dunkelheit, folgten einem schmalen Pfad, der wie eine Tierfährte aussah. Schließlich bedeutete er Marrah, ihre Stute zu zügeln. Sie saßen leise ab und führten die Pferde durch Wogen schwankenden schwarzen Grases in eine Schlucht hinunter, die Schutz vor dem Wind bot. Sie banden die Pferde neben einem kleinen Dickicht von immergrünen Büschen an und setzten sich in den Sand.
Stavan nahm Marrahs Hand und hielt sie einen Moment lang schweigend fest, und sie wurde plötzlich schüchtern. Es war mehr als drei Jahre her, seit sie das letzte Mal so zusammengesessen hatten. Auf der Böschung über ihren Köpfen fegte der Wind raschelnd durch trockenes Gras. Eine Haarsträhne fiel in Stavans Stirn, und er strich sie mit seiner freien Hand zurück.
»Wir müssen schnell reden. Wir haben nicht viel Zeit. Jemand könnte aufwachen und dich vermissen. Wir werden fliehen.«
» Ja! « rief sie, und beim Sprechen war ihr zumute, als frischte der Wind zu einem Sturm auf und trüge sie beide in die nachtschwarze Freiheit des Himmels hinauf. Sie zog Stavan an sich und gab ihm einen weiteren herzhaften Kuß. Das Blut hämmerte wie Pferdehufe in ihren Schläfen, und sie malte sich aus, wie sie mit Stavan und Arang gen Westen ritt, mit nichts als einer weiten, windzerzausten Ebene zwischen ihnen und Shara. »Erzähl mir alles. Sag mir, was ich tun soll. Ich werde tun, was immer getan werden muß.«
Und so erklärte er es ihr, wobei er oft innehielt, um sie zu küssen und an sich zu drücken, und als er sprach, erwachte ihr altes Ich in ihr. Jedes Wort, das er sagte, machte ihr neue Hoffnung. Bald war sie nicht mehr Marrah, die versklavte Ehefrau, sondern sie fühlte sich wieder wie das Mädchen, das von den Klippen von Xori in das aufgewühlte Meer gesprungen war; sie war wieder Marrah, Tochter von Sabalah, Marrah, die sich gegen jeden Mann behaupten konnte.
Zuerst, sagte Stavan, müsse sie begreifen, daß sie sorgfältiger beobachtet würde, als ihr bewußt sei. Changar hatte den Hansi eingeschärft, sie im Auge zu behalten, was der Grund war, weshalb Stavan nicht eher zu ihr hatte kommen können. Aber in der vergangenen Woche und an diesem Abend sei er das Risiko eingegangen, erklärte Stavan, weil ein Ereignis bevorstände, das alles verändern würde: Zuhan wolle Arang zu seinem Erben machen – und zwar nicht in vier Jahren, wie alle bisher angenommen hätten, sondern in fünf Tagen, vielleicht sogar noch eher. Im Moment wäre Arang bereits die meiste Zeit von Zuhans Leibwächtern umringt, aber sobald er offiziell zum Erben ernannt worden sei, würde er eigene Leibwächter bekommen, die ihn tagtäglich rund um die Uhr bewachten, so wie es bei Zuhan sei. Sie müßten so bald wie möglich fliehen: schon morgen, wenn sie könnten, oder spätestens am Tag darauf, solange Arang noch ein gewisses Maß an Freiheit hätte.
Es sei ein ungünstiger Zeitpunkt für die Flucht, er wolle ihr nichts vormachen, fügte Stavan hinzu. Der Winter stand vor der Tür, und Zuhan würde bewaffnete Krieger ausschicken; die Hansi-Fährtenleser waren die besten in der ganzen Steppe. Stavan
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