Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
hatte eigentlich bis zum Beginn des Frühlings warten wollen, wenn sie eine bessere Überlebenschance hätten, aber sie mußten jetzt fliehen, und sein Plan sah folgendermaßen aus: Arang hatte noch immer etwas Bewegungsfreiheit – mehr als Marrah –, weil niemand ernsthaft glaubte, daß ein Zehnjähriger zu entkommen versuchen würde, wenn der Winter bevorstand. Er, Stavan, konnte es nicht riskieren, mit Arang zu reden, aber Marrah konnte es. Sie sollte sich irgendeinen Vorwand einfallen lassen, um ihn zu sehen – fast jede Ausrede würde genügen, da sie offiziell seine Tante war –, und wenn sie ungestört waren, sollte sie Arang auftragen, Zuhan um die Erlaubnis zu bitten, ihn eine Nacht mit den Hütejungen verbringen zu lassen. Arang sollte sich beklagen, daß er bisher nicht mit anderen Jungen hätte spielen dürfen, und dann sehr respektvoll den Wunsch äußern, auf das Vieh seines Großvaters aufzupassen. Mit ein bißchen Glück würde Zuhan geschmeichelt sein und zustimmen.
In der Nacht, wenn alle schliefen, würde Stavan Marrah holen, aus dem Lager führen und sie hierherbringen, wo frische Pferde und Vorräte auf sie warten würden. Anschließend würde er zurückgehen und Arang holen. Mit ein wenig Glück würden sie ein ganzes Stück Vorsprung haben, bevor irgend jemand etwas von ihrem Verschwinden bemerkte. Sie würden nach Norden und Osten reiten, nicht nach Süden und Westen, und wenn sie sicher sein konnten, daß sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten, würden sie kehrtmachen. Wenn alles gutging, würden sie das Waldland erreicht haben, bevor die großen Schneestürme einsetzten. Wenn nicht, würden sie den Winter in einem der westlichen Flußtäler verbringen. Es gab dort Höhlen, wo sie Zuflucht finden konnten, und sie würden nicht verhungern, solange er einen Bogen hatte.
Während Marrah zuhörte, steigerte sich ihre freudige Erregung immer mehr. Es war kein perfekter Plan; er war gefährlich, und sie wußte, sie sollte an alles denken, was schiefgehen könnte, doch statt dessen schwelgte sie in dem Gedanken, wie wundervoll es wäre, nach Shara zurückzukehren. Sie dachte an ihre Großmutter und ihre Freunde; an den frischen, salzigen Geruch des Süßwassersees; an Oliven und Feigen und Wein, an Brot und richtige Bäume und honigfarbene Klippen. Aber hauptsächlich dachte sie daran, wie sehr sie Vlahan haßte. Wenn ihr die Flucht gelang, würde sie nie wieder stillhalten müssen, während er schwitzend und grunzend auf ihr lag, würde nie wieder den sauren Geruch des Kersek in seinem Atem riechen müssen. Sie würde nachts neben Stavan liegen und nur dann Liebe mit ihm machen, wenn sie dazu in Stimmung war, und jeder Atemzug, den sie tat, würde ein Hauch von Freiheit sein.
Plötzlich erkannte sie, was an dem ganzen Plan nicht stimmte. »Aber was ist mit Dalish und Akoah und den fünf shambanischen Frauen, die Slehan hat, und den vieren, die Zuhan übernommen hat? Was ist mit ihnen?«
Der Ausdruck auf Stavans Gesicht sagte ihr alles. »Vierzehn Menschen? « meinte er leise. »Vierzehn, Marrah, und zehn von ihnen sind Frauen, die sich kaum auf einem Pferd halten können. Was glaubst du wohl, wie weit wir kämen, bevor Zuhans Krieger uns einholen und uns alle abschlachten würden?«
»Aber wie können wir sie hier in der Sklaverei zurücklassen? Wie können wir so etwas Grausames tun? Ich würde jede einzelne Nacht meines Lebens an sie denken, Stavan.« Marrah erhob sich und ging von ihm fort, hinaus in das trockene Flußbett, und sie blickte zu den fremden Sternen am Himmel hinauf, die so hell und so nah schienen, daß sie das Gefühl hatte, sie brauchte nur den Arm auszustrecken, um sie zu berühren. Und dennoch war der Himmel so weit entfernt, so unendlich weit. Ganz nah und zugleich in unerreichbarer Ferne und unmöglich, dachte sie. Und da wußte sie, daß nur sie und Arang und Stavan nach Westen reiten würden, ganz gleich, wie verzweifelt sie versuchte, etwas daran zu ändern. Sie kehrte zu Stavan zurück, ernüchtert und bleich im Gesicht. Sie nahm seine Hand in ihre, und als sie sprach, klang ihre Stimme fest.
»Na gut, dann nur wir drei«, stimmte sie zu und fühlte sich dabei wie eine Verräterin, aber welche andere Wahl hatte sie denn? Dalish, dachte sie. Dalish, vielleicht. Sie konnte Dalish nicht einfach aufgeben, doch die anderen, ja, die konnte sie zurücklassen. Sie mußte es.
Stavan zog sie an sich und hielt sie umschlungen, aber als Marrah die Augen schloß, sah sie
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