Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
im Feuer gelegen hat, und das Schlimmste ist, daß er keinen Laut von sich gegeben hat außer diesem schrecklichen Husten. Manchmal öffnet er die Augen, aber wir können nicht erkennen, ob er bei Bewußtsein ist. Vielleicht ist er blind, wie du schon gesagt hast. Aber blind oder nicht, es geht ihm gar nicht gut.«
Marrah, die den Fremden schon fast vergessen hatte, fühlte sich schuldig, daß sie die Nacht glücklich in Beres Armen verbracht hatte, während der Ärmste Qualen litt. »Armer alter Mann «, murmelte sie.
Sabalah fiel ein, daß Marrah natürlich noch nichts davon wußte. »Nicht alt«, korrigierte sie ihre Tochter, »sondern jung. Ama hat ihn auf ungefähr siebzehn geschätzt, vielleicht sogar noch etwas jünger. Das ist der Grund, weshalb er so lange durchgehalten hat.«
Marrah war überrascht. Sie wollte gerade fragen, wie es möglich sein konnte, daß ein so junger Mann schon weißes Haar hatte, als der Fremde erneut zu husten begann – ein ersticktes, angestrengtes Keuchen, als versuchte er, sich die Lunge aus dem Leib zu husten.
»Komm, hilf mir«, drängte Sabalah besorgt und eilte zu der Pritsche am Feuer, wo der Fremde am ganzen Körper zitternd und in Schweiß gebadet lag. »Wir können hier nicht herumstehen und reden. Wir müssen versuchen, diesen Husten zu unterbinden und sein Fieber zu senken, sonst wird es nur noch einen einzigen Ort geben, wohin wir ihn bringen können – zurück zur Mutter Erde.«
Während der nächsten fünf Tage pflegten Ama, Sabalah und Marrah den Fremden, versuchten, ihn vom Abgrund des Todes wegzuziehen. Es war harte, ermüdende Arbeit, noch erschwert durch die Tatsache, daß ihre Anstrengungen zum Scheitern verurteilt schienen, aber sie machten weiter, selbst als es töricht schien, noch Hoffnung zu hegen. Oft kamen Dorfbewohner vorbei, um eine Weile vor Amas Haus zu sitzen und zu singen und zu beten, wie es üblich war, wenn einer der Hausbewohner sehr krank war, und die Nachricht sprach sieh schnell herum, daß es bald Zeit würde, einen neuen Turm des Schweigens zu bauen.
Aber die Frauen gaben nicht auf. Zuerst versuchten sie, den Kranken mit einer Schwitzkur von seinem Fieber zu befreien, indem sie ihn in Wildleder wickelten, das in heißes Wasser getaucht war, zusätzliche heiße Steine an seine Füße legten, ihn in Felle einhüllten und ihm Austernschalen voll heißen Birkenrindentees einflößten.
Als das nichts half, als er nur zu phantasieren und wild um sich zu schlagen begann, versuchten sie es abwechselnd mit heißen und kalten Anwendungen. Zuerst wickelten sie ihn in Felle ein, bis er zu schwitzen begann, dann zogen sie die Decken herunter und wuschen ihn mit eiskaltem Quellwasser. Manchmal sah es so aus, als funktionierte die Methode; das Fieber sank, und der Mann hörte auf zu zittern und schlief einige Stunden. Aber immer, wenn der Tag zur Neige ging und die Nacht hereinbrach, stieg sein Fieber wieder, und bis zum frühen Morgen hatte sich sein Zustand wieder soweit verschlechtert, daß er ununterbrochen hustete und am ganzen Körper zitterte und erregt in einer fremden Sprache redete, die keiner verstand. Das einzig Gute, was bei all dem herauskam, war, daß sie feststellten, daß er nicht blind war. In seinen klaren Momenten wurde offensichtlich, daß der Fremde sie nicht nur sehen konnte, sondern auch begriff, daß sie ihm zu helfen versuchten, und manchmal ließ er die eiskalten Waschungen mit einem so verzweifelten, hoffnungslosen Ausdruck im Gesicht über sich ergehen, daß sich die Frauen abwandten, um ihre eigenen Tränen vor ihm zu verbergen.
Am Nachmittag des vierten Tages rief Sabalah Marrah nach draußen vors Haus. »Es gibt eine bestimmte Pflanze, die an sumpfigen Stellen wächst. Sie hat eine kleine, zähe Wurzel, die mit kleinen roten Härchen bedeckt ist. Die Blüten sind ebenfalls sehr klein, weiß und nur bei Sonnenschein geöffnet, deshalb kann es sein, daß du sie zuerst nicht siehst, aber du wirst keine Mühe haben, die Blätter zu entdecken.«
Sabalah kniete sich hin, hob einen Zweig auf und begann, die Umrisse der Pflanze auf den Erdboden zu zeichnen. »Die Blätter sind flach – so, siehst du? –, und sie sind auch mit roten Haaren bedeckt. Die Haare sind nach innen gebogen, und jedes hat einen Tropfen Flüssigkeit an seiner Spitze, ähnlich wie Tautropfen.« Sie stand auf und wischte sich die Hände ab. »Hol so viele von den Pflanzen, wie du finden kannst – aber vergiß nicht, daß du wenigstens zwei stehen
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