Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
hatten. Das Küstenvolk betrachtete den Verlust der Jungfräulichkeit nicht als ein traumatisches Erlebnis; tatsächlich gab es in ihrer Sprache noch nicht einmal ein Wort für »Jungfrau«. Man konnte eine junge Frau Ezhhaur nennen, was soviel hieß wie »sie, die noch kein Kind geboren hat«, oder auch bihotz, was »für sich allein glücklich« bedeutete (das heißt, ahne einen Partner), aber es gab kein Wort für eine Frau, die noch keinen richtigen Geschlechtsverkehr gehabt hatte.
Die Angehörigen des Küstenvolks genossen Sex und waren Experten im Erfinden raffinierter Praktiken, um einander Lust zu bereiten, aber es war nicht ungewöhnlich für eine Frau, die Jahre zwischen dreizehn und sechzehn zu verbringen, indem sie sich auf eine Art vergnügte, die keine Kinder zur Folge haben würde. Tatsächlich waren die Angehörigen des Küstenvolks eine solche Mischung aus hemmungsloser Lüsternheit und völliger Enthaltsamkeit, daß man nur schwer sagen konnte, ob sie eines der freizügigsten Völker der Erde waren oder eines, das sich die stärkste Beherrschung auferlegte.
Bere schlief gut, ohne Bedauern zu empfinden. Er hatte nicht erwartet, daß diese Nacht anders sein würde als irgendeine andere, denn obwohl Marrah jetzt eine Frau war und somit die Wahl hatte, ein Kind zu zeugen, hatte er kaum damit gerechnet, daß sie es tun würde. Sicher, er hatte sich der Hoffnung hingegeben, daß sie vielleicht gegen die Innenseite seiner Schenkel klopfen würde, um ihm zu signalisieren, daß sie bereit war, ihn in sich eindringen zu lassen – und welcher Mann würde so etwas nicht hoffen? –, aber dieser leichte Klaps war nie erfolgt, und Bere war nicht wirklich enttäuscht.
Marrah hatte ihm oft gesagt, daß sie warten wollte, bis sie wenigstens sechzehn wäre, um Mutter zu werden, und trotz der Kräuter, die sie getrunken hatte, um eine Empfängnis zu verhüten, gab es keinen sichereren Weg als den einen, den sie gewählt hatte, deshalb war er weder überrascht, noch fühlte er sich zurückgewiesen. Im Gegenteil, er fühlte sich geehrt, daß sie ihn als Partner für die Nacht ihrer Volljährigkeit ausgewählt hatte. So viele junge Männer hatten für sie getanzt, und dennoch, als der Tanz zu Ende war, hatte sie sich erhoben und ihre Hände nach ihm ausgestreckt.
Marrah drehte sich im Schlaf herum. Ohne aufzuwachen, schmiegte sich Bere von hinten an ihren Rücken und umfaßte ihre nackten Brüste mit seiner Hand. Die beiden Liebenden schliefen weiter, ohne sich noch einmal zu bewegen, bis das Licht am Himmel purpurrot wurde und die ersten weißen Seemöwen in der kühlen Morgenluft über dem Stein der Göttin kreisten.
In Amas Langhaus warf sich der Fremde ruhelos unter den Decken aus Schaffell hin und her. Er träumte: nicht die friedlichen Träume von Marrah und Bere, sondern wirre Fieberträume. Manchmal träumte er, er säße wieder in dem Einbaum und schrie den Händlern zu, daß sie zu nahe an den Felsklippen segelten. Das kleine Segel wurde größer und größer in seinem Traum, bis es sich zu einer gigantischen braunen Woge auswuchs. Und dann stürzte die Woge donnernd auf ihn hernieder, brüllend wie ein Tier, und er wurde über Bord geschleudert, und das Boot zerbrach in tausend Stücke. Er kämpfte mit aller Kraft, um den Kopf über Wasser zu halten, aber der Sog der Strömung war zu stark, zog ihn in die Tiefe, und seine Lungen füllten sich mit Wasser, und Todesangst überwältigte ihn.
Meistens jedoch waren seine Träume von nichts als Fieber erfüllt und noch mehr Fieber und einem brennenden Gefühl in seiner Brust, und Gesichter kamen und gingen, hauptsächlich Frauengesichter: das seiner Mutter, schon lange tot, und die braunen Gesichter der grausamen Frauen, und einmal das Gesicht von Jallate, Vlahans erster Ehefrau, die schon Jahre zuvor gestorben war, als er noch ein kleiner Junge gewesen war.
Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut heraus. Er versuchte, Luft zu holen, doch statt dessen schien er flüssiges Feuer einzuatmen. Ein heftiger Hustenanfall erschütterte seinen Körper. Seine Lungen waren mit Flüssigkeit gefüllt, und er konnte kaum atmen, hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Die ganze Nacht lang hustete er und brannte innerlich und träumte fiebrige Träume von seinem Kampf gegen das Meer.
»Es kann sein, daß wir ihn verlieren«, erklärte Sabalah Marrah, als diese nach ihrer Nacht mit Bere in das Langhaus zurückkehrte. »Seine Haut ist so heiß wie ein Stein, der
Weitere Kostenlose Bücher