Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
lassen mußt, damit sie nachwachsen können.« Sie warf einen Blick zurück zur Tür des Langhauses und schüttelte den Kopf. »Ama und ich werden einen speziellen Trank für den Fremden zubereiten. Einige der Bestandteile sind gefährlich, und ich hasse es, sie zu benutzen, aber ich glaube nicht, daß wir noch eine andere Wahl haben.«
Marrah eilte in den Wald und verbrachte den Rest des Tages damit, erfolglos nach den Pflanzen zu suchen. Obwohl Sabalah sie seit dem Tag, als sie laufen konnte, zur Priesterin und Heilerin ausgebildet hatte, hatte Marrah nie besonderen Eifer bewiesen und die Ausbildung eher ungeduldig hingenommen. Es war ihr Geburtsrecht, etwas, was zu tun man von ihr erwartete, und sie war oft gelangweilt und unruhig gewesen, wenn ihre Mutter innegehalten hatte, um zu einem endlosen Vortrag über die Heilkräfte irgendeiner unscheinbaren kleinen Blume oder einer Faustvoll Moos auszuholen. Jetzt, wo ein Menschenleben auf dem Spiel stand, wünschte Marrah, sie hätte damals besser zugehört. Frustriert wanderte sie von einer sumpfigen Stelle zur anderen und fand nichts als Schlamm, Laichkrautgewächs und Wasserlilien. Schließlich, als es fast schon zu dunkel war, um etwas zu sehen, entdeckte sie drei flachblättrige, kümmerliche Pflanzen, die im Schlamm wuchsen.
Nur drei! Und sie würde mindestens zwei davon stehen lassen müssen, damit die Pflanze an dieser Stelle weiterwachsen konnte. Sie ging in die Hocke und zog eine Pflanze aus; die Regel, zwei zurückzulassen, war nur schwer zu befolgen, wenn jemand sehr krank war, aber sie zu brechen würde eine Sünde gegen die Göttin Erde bedeuten. Marrah hielt die Pflanze in ihrer Hand und entschuldigte sich bei ihr, weil sie sie ihrem Heim entrissen hatte.
»Danke, daß du dich mir schenkst«, sagte sie zu den flachen, behaarten Blättern. Hätte sie ein Tier getötet, dann hätte sie sich ebenfalls bei ihm bedankt. Nichts wurde jemals aus dem Wald oder dem Meer genommen ohne Dankesbezeugungen und ein kurzes Gebet. Sorgfältig verstaute Marrah die Pflanze in ihrem Sammelkorb und eilte dann ins Dorf zurück, wo Ama und Sabalah schon auf sie warteten.
Sabalah schüttelte den Kopf, als sie die einzelne Pflanze auf dem Boden von Marrahs Korb erblickte. »Es ist nicht genug, aber es wird eben reichen müssen.« Sie nahm die Pflanze mit ins Haus und legte sie in einen kleinen Topf mit Wasser, der dampfend auf den Kohlen stand. Der Topf war bereits mit anderen Dingen gefüllt worden: Mohnsirup, Rinden, Moos und Kräutern. Als der Sud lange genug gezogen hatte, hob Ama den Tontopf von den Kohlen und begann ihn abzukühlen, indem sie ihn zuerst in warmes und dann in kaltes Wasser tauchte, bis der Inhalt lauwarm war. Zum Schluß gab sie noch Erde und schimmeliges, zerbröseltes Brot zu der Mischung.
Arang, der sich um das Feuer gekümmert hatte, rümpfte angewidert die Nase und wandte sich ab.
»Du willst ihn zwingen, das zu trinken ?« rief Marrah. Die Mischung sah höchst unappetitlich aus und roch noch schlimmer.
Ama nickte. »Ja, jeden einzelnen Tropfen, wenn ich es ihm irgendwie einflößen kann.« Sie winkte ihren jüngsten Enkel, Belaun, zu sich, der die Zubereitung der Medizin mit Faszination und Abscheu beobachtet hatte. »Glaubst du, du kannst ihn festhalten, während wir seinen Mund öffnen ?«
Belaun schüttelte den Kopf. »Nein, obwohl er krank und geschwächt ist, ist er zu groß und wird sich wahrscheinlich wehren. Ich würde das ganz bestimmt tun, wenn du mir dieses Zeug bringen würdest und ich nicht wüßte, daß es nur zu meinem eigenen Besten ist. Es riecht wie Gift, Großmutter.«
»Kümmere dich nicht darum, wie es riecht«, entgegnete Ama gereizt. »Sieh lieber zu, daß du Hilfe holst.«
Wenige Minuten später kehrte Belaun mit Hiru und Urte zurück, zwei kräftigen jungen Männern, die im benachbarten Langhaus wohnten. Ama blickte auf die beiden Männer und dann auf den Fremden, der unruhig auf seinem Stapel von Schaffellen schlief, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand.
»Gut.« Sie wandte sich an Sabalah. »Warum lassen wir nicht zuerst Marrah versuchen, ihm den Trank einzuflößen? Möglich, daß er ihn von einem hübschen Mädchen annimmt – äh, Frau, meine ich. Tut mir leid, Marrah. Ich weiß, du bist vor einigen Tagen volljährig geworden, aber ich hatte wirklich noch keine Zeit, um darüber nachzudenken.« Sie goß eine kleine Menge des Trankes in eine Tonschale, reichte sie Marrah und drehte sich dann zu Belaun, Hiru und
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