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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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als sie von dem Priel weggegangen war, hatte ihn zusammenzucken lassen, wie es keine Messerklinge vermocht hätte, und er spürte – obwohl er nicht genau sagen konnte, warum –, daß er etwas Unehrenhaftes getan hatte.
    Die Wahrheit war, daß seine Art zu denken und zu empfinden häufig nicht mit der Denkweise seines Volkes übereinstimmte. Er hatte niemals besonders gut in den Stamm gepaßt, und seine Verwandten wiederum hatten ihn immer leicht sonderbar gefunden. Vlahan, sein Halbbruder, der Stavan haßte und froh sein würde, ihn tot zu sehen, pflegte ihn verächtlich als »weibisch« zu beschimpfen, doch die anderen Männer waren nicht der Ansicht, daß dies das Problem war, denn abgesehen davon, daß Stavan einer der Söhne des Großen Häuptlings war, war er auch groß und kräftig, besaß viel Mut und ein scharfes Auge und einen Wurfarm, der einen Speer mit der Geschwindigkeit eines herabstürzenden Falken schleudern konnte. Schon als Kind hatte er die wildesten Pferde geritten, als wären er und sie ein Wesen, und niemand konnte Tierfährten besser lesen oder Hunger, eisige Kälte und sengende Hitze klagloser ertragen als er.
    Und was seine Loyalität betraf – die war über jeden Zweifel erhaben. Viele jüngere Söhne von Häuptlingen verbrachten ihr Leben damit, Wege zu ersinnen, um ihre älteren Brüder zu ermorden und die Macht an sich zu reißen, aber Stavans Treue zu Achan war unverbrüchlich. Wenn man erst einmal Stavans Freund war, dann blieb man lebenslänglich sein Freund, und dies war sogar schon so gewesen, als er noch ein Kind war.
    Dann war da noch die Sache mit dem Überfall der Tcvali. Als Stavan dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte er mit fünf anderen Jungen die Pferde und das Vieh bewacht, als urplötzlich eine Bande von Tcvali-Kriegern über sie herfiel und alle außer Stavan töteten, den sie schwer verletzt liegen ließen. Es war Winter, und die Steppe war mit Schnee bedeckt, doch statt aufzugeben und zu erfrieren, hatte er überlebt und war zum Lager zurückgetaumelt, um Alarm zu schlagen.
    Keiner hatte angenommen, daß Stavan die Nacht überleben würde, obwohl Changar, der Wahrsager und Heiler, herbeigerufen wurde und Zuhan die Anweisung gab, ein Pferd zu opfern – was bemerkenswert war, wenn man bedachte, daß der Junge nur der Sohn einer Konkubine war. Aber Stavan überlebte, und die Geschichte vom verzweifelten Mut seiner Wanderung durch den Schnee, um seinen Stamm zu warnen, wurde so oft und so begeistert unter den Angehörigen der Zwanzig Stämme erzählt, daß keiner jemals wieder ernsthaft fragen konnte, ob der jüngste Sohn des Großen Häuptlings die nötigen Eigenschaften hatte, um ein ganzer Mann zu sein – das heißt, keiner außer Stavan selbst, der sich diese Frage insgeheim öfter stellte, als gut für seinen Seelenfrieden war. Denn er wußte, was niemand sonst wissen konnte: Unter seinem tapferen Äußeren verbarg sich eine weichherzige Person, die nicht wirklich dazu geboren war, ein Krieger zu sein.
    Er wurde sich seiner Charakterschwäche zum ersten Mal bei dem Rachefeldzug gegen die Tcvali bewußt, der kurz nach seiner Genesung stattfand. Irgendwann während der schneereichen Jahreszeit, als die Krieger-Sterne hoch am Himmel standen und die Tage kurz waren, hatte Zuhan Stavan in sein Zelt gerufen, um ihm mitzuteilen, daß er mit den Männern reiten dürfe, um seine ermordeten Gefährten zu rächen, und damals hatte Stavan zum ersten und letzten Mal in seinem Leben die heiße, pulsierende Erregung jenes Augenblicks gefühlt, wenn ein Krieger weiß, daß er bald das Blut seiner Feinde vergießen wird.
    »Wir werden die Tcvali auslöschen und unsere Pferde und unser Vieh zurückholen«, versprach Zuhan, während er Stavan aus schmalen Augen musterte und feststellte, daß ihm gefiel, was er da sah, denn der Junge war groß für einen Dreizehnjährigen, und er hatte die Arme und Beine eines Mannes, der zum Reiten geboren ist. »Und wenn du einen ihrer Krieger tötest – nicht eine ihrer Frauen, denn das wäre zu einfach –, werde ich Changar anweisen, die Symbole der Männlichkeit in dein Fleisch zu ritzen, selbst wenn du noch ein Jahr zu jung bist für diese Zeremonie.«
    Niemand war stolzer als Stavan in dem Moment, als ihm sein Vater versprach, ihn zum Mann zu machen, und als er sich verbeugte und den Boden vor Zuhans Füßen küßte, schwor er sich, er würde der wildeste, gefährlichste Krieger sein, den die Hansi jemals erlebt hatten. Am nächsten Morgen

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