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Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde

Titel: Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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anderen ruhten, nachdem sie sich gegenseitig befriedigt hatten, dachte Marrah, wie schön und geheimnisvoll die Welt doch war, und wie sie weitaus mehr Dinge enthielt, als man mit den Augen sehen konnte.
     

5. KAPITEL
    Stavan brach ein Stück Ziegenkäse ab, wickelte es in Eichelkuchen und verzehrte es nachdenklich. Er und Marrah saßen auf einem Felsblock am Strand, ein Stück entfernt von den anderen, aßen ihre Mittagsmahlzeit und ließen ihre Füße in einen Priel hängen. Es war ein klarer Tag, sonnig und kühl, gutes Wetter für den Marsch zurück nach Xori, aber sie waren nur langsam vorangekommen, weil Stavan sich geweigert hatte, wieder auf der Tragbahre zu liegen. Zur Überraschung aller hatte er den ganzen Morgen durchgehalten, doch jetzt war er weißlippig und erschöpft und mußte sich ausruhen, und er unterhielt sich mit Marrah in der Sprache von Shambah, während er seinen Käse aß und eine Handvoll Brombeeren mit ihr teilte, die sie am Wegesrand gepflückt hatte.
    Da Marrah jetzt wußte, daß er am Ende des Sommers fortgehen würde, wollte sie so viel über ihn herausfinden, wie sie konnte. Bis auf Sabalah hatte sie noch keinen gekannt, der mehr als einen Fünftagemarsch vom Meer der Grauen Wogen entfernt gewesen war – außer Händlern natürlich, aber Händler zählten nicht, da reisen zu ihrem Beruf gehörte und sie sich immer ein Abendessen und einen warmen Platz am Feuer verdienten, indem sie phantastische Geschichten erzählten, die niemand, der halbwegs bei Vernunft war, glauben konnte.
    Marrah hatte sie ferne Länder beschreiben hören, wo die Menschen angeblich auf goldenen Flügeln flogen und Dörfer im Morgengrauen aus den Wellen aufstiegen und am Abend wieder versanken, wo Ungeheuer Feuer atmeten und Steine spuckten, und allen möglichen anderen Unsinn, aber sie wollte gerne wissen, wie der Rest der Welt wirklich aussah.
    Stavan schien gewillt, ihrem Wunsch nachzukommen. Er sprach langsam, als versuchte er, sein Volk aus großer Ferne herbeizuzaubern, während er sie mit ruhigen, blaßblauen Augen ansah, die ihrem Blick niemals auswichen, aber in seiner Stimme schwang etwas mit, was sie vermuten ließ, daß er sehr einsam war.
    »Mein Volk gehört zum Stamm der Hansi«, begann er. »Han ist der Gott des Leuchtenden Himmels, und ›si‹ ist unser Wort für Wolf, deshalb sind wir ›die Wölfe Gottes‹, die auf die Erde geschickt wurden, um über alle Lebewesen zu herrschen, so wie der Wolf über sein Rudel herrscht. Zuhan, mein Vater, ist der Große Häuptling, was bedeutet, daß er die Macht hat, die Zwanzig Stämme zusammenzurufen und sie in die Schlacht zu führen. Wir leben weit im Osten von hier in einer großen Ebene, die wir das Grasmeer nennen, und wir haben dort schon seit Anbeginn der Zeit gelebt. Wir sind berühmte Krieger; wir besitzen mehr Pferde und Vieh und langhaarige Schafe als jedes unserer Nachbarvölker, und deshalb ziehen wir häufig von einem Ort zum anderen, um sie grasen zu lassen, und wenn wir weiterziehen, erzittert die Steppe unter den Hufen unserer Herden, und unsere Feinde laufen in alle Richtungen davon wie Kaninchen. Unsere Kraft kommt von der nährreichen Milch, die wir trinken, und von dem Blut, das wir in unseren Haferbrei rühren, und wir sind niemals ohne Fleisch gewesen, noch nicht einmal während der mageren Zeiten, als mein Urururgroßvater lebte, da in dieser Zeit kein Regen fiel und ärmere Stämme verhungerten.«
    Er hielt inne und aß den Rest seines Eichelkuchens. Dann leckte er seine Finger ab und nahm seine Geschichte an der Stelle wieder auf, wo er sie unterbrochen hatte. »Das erste, woran ich mich erinnern kann, ist das Gras, höher als mein Kopf, saftig grün und wie ein wogendes Meer gegen den blauen Himmel. Ich muß damals ungefähr zwei Jahre alt gewesen sein, und ich war vom Zelt meines Vaters weggelaufen, um einen Schmetterling zu fangen.« Stavan lächelte, und seine blauen Augen glitzerten plötzlich belustigt. Marrah fand die Wirkung ziemlich verblüffend, wie bei Sonnenlicht, das auf offenes Wasser trifft. »Ganz plötzlich merkte ich, daß meine Mutter nirgendwo zu sehen war, und ich fing an zu weinen und rief nach ihr. Und bevor ich wußte, was geschah, war sie bei mir und hob mich mit Schwung auf ihre Arme.«
    Das Licht in seinen Augen verlöschte so schnell, wie es gekommen war, und er brach ein neues Stückchen Käse ab und fuhr fort zu essen auf eine unerschütterliche, gründliche Art, als hätte die Erinnerung

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