Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Felsbrocken, die donnernd einen Abhang hinunterpolterten.
Als sie angestrengt nach vorn blickte, konnte sie jedoch nichts als die sanft gewellte Ebene der Steppe erkennen, von bläulich-grau schimmerndem Schnee bedeckt. Der Mond stand inzwischen schon ein ganzes Stück tiefer am Himmel, und wenn er unterging, würde es nicht lange dauern, bis die Sonne am Horizont emporstieg. Wenn sie nicht bald auf das Lager der Krieger stießen, würden sie mitten auf freiem Feld vom Tageslicht überrascht werden, und dann war es endgültig für jede Hoffnung zu spät. Marrahs Zweifel wuchsen mit jedem Schritt, den ihr Pferd machte. Ihrer aller Schicksal hing von dem Erfolg von Stavans Plan ab, aber was, wenn Hiknak sich geirrt hatte? Was, wenn die Hunde, die sie verfolgten, nicht die Mukhans waren, sondern fremde Tiere, die Hiknak nicht kannten und unverzüglich Alarm schlügen?
Falls Hiknak ähnliche Bedenken hatte, so ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie ritt ruhig vor Marrah her und lenkte ihre Stute um größere Schneewehen herum, ohne ein einziges Mal zurückzuschauen. Der Mond glitt immer tiefer, als Stavan endlich seinen Hengst zügelte und den anderen mit einer Handbewegung bedeutete, abzusitzen.
»Wir lassen die Pferde jetzt hier«, flüsterte er. Schweigend schwangen sie sich vom Rücken ihrer Tiere. Dalish, die als Wächterin zurückbleiben sollte, nahm die Zügel von Marrahs Stute und schlang sie locker um ihr Handgelenk. Das Mondlicht war noch immer so hell, daß Marrah die roten Troddeln an Dalishs Kapuze sehen konnte, ein Überbleibsel aus der Zeit, als Dalish die Konkubine des alten Zuhan gewesen war. Die Troddeln wehten leicht im Wind, und ihre Fröhlichkeit schien in diesem Moment so fehl am Platze wie Tänzer in einem Siechenraum.
»Viel Glück«, flüsterte Dalish und küßte Marrah sanft auf die Wange. Ihr Kuß brannte wie eine Warnung in der Kälte, und Marrah schauderte leicht. Sie wandte sich ab, um mit Hiknak, Stavan und Arang die Spur zurückzuverfolgen, die ihre Pferde hinterlassen hatten, als sie nach Osten geritten waren, wobei sie aus Vorsicht jedesmal in dieselben Hufabdrücke trat. Der Schnee knirschte leise unter ihren Stiefeln, und die Luft war so unbewegt und still, daß sie ihr Herz hämmern hörte.
Marrah nahm an, daß sie sich dem Lager näherten, aber woher Stavan und Hiknak so genau wußten, wo es lag, war ihr ein Rätsel. Dennoch mußten sie eine Art sechsten Sinn besitzen, oder vielleicht hatten ihnen die Steppengötter hellseherische Fähigkeiten verliehen, denn plötzlich blieben beide wie angewurzelt stehen.
Stavan blickte Hiknak an, und Hiknak nickte stumm. Sie trat auf Marrah zu und drückte sie in einer schnellen Umarmung an sich, die nach nasser Wolle und Schweiß und Pferden roch. Die Geste überraschte Marrah, doch sie erwiderte Hiknaks Umarmung, voller Angst, sie wieder loszulassen. Leb wohl, Hiknak, dachte sie traurig, und möge die süße Göttin Erde mit dir sein. Aber sie sagte nichts, löste sich nur schweigend von Hiknak und blickte ihr nach, als sie sich abwandte und so leise wie ein Schatten davonglitt. Eine Weile konnte sie Hiknak noch sehen, eine schwarze Gestalt, die sich vor einem grauen Hintergrund bewegte. Dann mußte sie über eine kleine Bodenerhebung gewandert sein, denn plötzlich war sie verschwunden.
Arang kam zu Marrah und nahm ihre Hand in seine. Er starrte in die Richtung, in der Hiknak verschwunden war, als hätte er Mühe, seine Tränen zurückzuhalten, aber schwieg eisern. Sie warteten eine Zeitlang, rechneten jeden Moment damit, das Bellen der Hunde zu hören, doch zu Marrahs unendlicher Erleichterung blieb die Stille der Nacht ungebrochen.
Nach einer Weile berührte Stavan Marrah leicht am Arm und nickte Arang zu, wortlos marschierten nun die drei auf das Lager zu. Bald blieb Stavan erneut stehen und reckte schnuppernd die Nase in die Luft. Marrah tat es ihm gleich, konnte jedoch zuerst nichts als die beißende Kälte riechen. Dann bemerkte sie einen leicht rauchigen Geruch. Feuer, dachte sie. Sie gingen noch ein Stück weiter, und bald schlug ihr der unverkennbare Geruch von Pferden entgegen. Sie kletterten eine kleine Böschung hinauf – nicht direkt ein Hügel, denn es gab nirgendwo Hügel in der Steppe, sondern nur eine kleine Erhebung, die weniger flach war als der Rest – und ganz plötzlich sah Marrah die Silhouetten von Pferden, die sich dunkel gegen den vom Mondschein erhellten Himmel abzeichneten.
Stavan ließ sich auf
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