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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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meinte, doch sie nickte, und zur gleichen Zeit packte das Imsha plötzlich ihr Handgelenk. Was als nächstes geschah, war so merkwürdig, daß es Marrah regelrecht den Atem verschlug.
    Kaum hatte das Imsha ihren Arm berührt, da spürte Marrah, wie sie in tiefe Trance versank. Einen Moment war alles ein konfuses Durcheinander von Farbe und Licht. Dann begannen sie und das Imsha auf einmal zu schrumpfen. Tiefer und immer tiefer ging es hinunter, und sie wurden kleiner und kleiner, bis die Felsblöcke um den Teich wie Berge aussahen und das Gras so hoch wie Bäume war. Ein Schmetterling flog über sie hinweg, einem riesigen Luftschiff gleich, mit großen blau-gelben Flügeln, die wie Feuer glühten, und ein Chor von Froschstimmen dröhnte in ihren Ohren wie das Rauschen eines Ozeans.
    Vor ihnen nahmen die Blätter des Holunderstrauchs die Größe von Segeln an, und das Netz wurde so groß wie ein Hausdach. Das Imsha führte Marrah zu dem riesigen Geflecht aus schwarzen Seilen, jedes so dick wie ihr Arm, und als sie sich näherten, versteifte es sich plötzlich und hörte auf, sich im Wind zu blähen.
    »Die Zeit ist stehengeblieben«, verkündete das Imsha, aber Marrah hörte kaum zu. Verwundert starrte sie auf eine Schwalbe, die in der Luft über ihr mitten im Flug anhielt, und bei ihrem Anblick empfand sie eine sonderbare Verzückung, die alle Furcht überwand.
    »Schau«, befahl das Imsha.
    Marrah gehorchte und sah, daß alle Öffnungen in dem Knüpfwerk zu Fenstern geworden waren, von denen sich jedes auf eine andere Welt öffnete. In einem Fenster sah sie sich selbst an ihrem Volljährigkeitstag wieder, während sie von einer hohen Klippe in die Brandung hinuntersprang; in einem anderen sah sie sich am Strand ihres Heimatdorfes, wie sie Stavan aus dem Meer zog; in einem dritten sah sie Keru und Luma im Augenblick ihrer Geburt.
    Shara war dort zu sehen und auch die Steppe; hier war sie Vlahans Ehefrau und Gefangene, gerade damit beschäftigt, Pferdeäpfel in einen Korb zu sammeln; dort war sie Lalahs geliebte Enkelin und stillte ihre Kinder auf dem Dach des Hauses, während sie mit Dalish schwatzte. In einigen der Fenster war sie eine Frau mittleren Alters, und in wieder anderen saß sie alt und gebeugt in der Sonne neben einer jungen Frau, die sie nicht erkannte. Nun doch von Furcht überwältigt, schloß sie die Augen.
    »Ich kann diese Visionen nicht ertragen! « rief sie angstvoll. »Laß sie verschwinden! «
    Das Imsha lachte nur und verstärkte seinen Griff um Marrahs Handgelenk. »Wovor hast du Angst?«
    »Ich fürchte mich davor, meinen eigenen Tod zu sehen.«
    »Du wirst deinen eigenen Tod nicht sehen, es sei denn, du bittest darum. Öffne die Augen, Marrah, Tochter von Sabalah. Sei mutig. Mach deine Augen auf und sieh weit, weit in die Zukunft.«
    Marrah faßte Mut und stellte fest, daß sie und das Imsha vor einem der Fenster standen und in eine Art Riesenhaus hineinschauten, größer als jedes Mutterhaus, das jemals erbaut worden war. Lange, röhrenförmige Laternen an der Decke verströmten bläulich grünes Licht, und Menschen in kurzen, bunten Kleidern schlenderten in den Sälen umher und betrachteten Dinge in seltsamen Kästen. Die Wände der Kästen waren durchsichtig wie Wasser, aber dennoch fest. Marrah sah Hansi-Speere hinter jenen festen Wasser-wänden liegen; Pfeile, Dolche und die Knochen eines Mannes, eingerahmt von Waffen und goldenen Schmuckstücken.
    »Komm mit«, flüsterte das Imsha, und Marrah schien mit ihm durch das Fenster in das große Haus zu schweben, durch endlose, matt erleuchtete Korridore, bis sie in einen anderen, kleineren Saal gelangten.
    Hier war nur eine einzige Person, eine Frau mittleren Alters mit grau-braunem Haar und Stiefeln mit sonderbaren Absätzen, die wie kleine Stöckchen aussahen. Sie beugte sich gerade vor, prüfte etwas in einem der Wasserkästen, und als Marrah genauer hinsah, erkannte sie, daß es die rote Tonschale mit den schwarzen Schlangenmustern war, die sie erst gestern gebrannt hatte.
    »Jetzt siehst du, warum die Schale perfekt sein mußte«, sagte das Imsha. Es stellte sich hinter die Frau und legte ihr seine Hände auf die Schultern, doch diese spürte das Imsha offenbar nicht. Sie fuhr nur fort, sich Marrahs Schale anzusehen, während sie leicht die Stirn runzelte, wie jemand, der tief in Gedanken versunken ist.
    »Die Schale spricht zu ihr«, sagte das Imsha. »Die Frau hört deine Stimme über eine Kluft von so unendlich vielen Jahren hinweg,

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