Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
im Zelt war klar, was er Puhan angetan hatte, aber keiner wagte es, schadenfroh zu grinsen. »Nachdem unser Held Puhan seinen Lobgesang beendet hat und für seine mutige Tat belohnt worden ist, müssen wir uns anderen Dingen zuwenden. Der Verräter Stavan ist tot und der Aufstand der Rebellen niedergeschlagen; doch unser Sieg ist nicht so süß, wie er hätte sein sollen. Unsere besten Kundschafter haben wochenlang vergeblich nach einer Spur von Arang gesucht; aber heute abend sind sie zu mir gekommen, um zu berichten, daß er von seinen Entführern nach Süden zu einem verfluchten Ort namens Shara verschleppt worden ist, wo Bäume Seite an Seite wachsen und Frauen herrschen.«
Ein Murmeln der Überraschung und des Zorns erhob sich unter den Kriegern. Vlahan hob sein pferdeköpfiges Zepter, legte den Kopf in den Nacken und richtete seine nächsten Worte an den Himmel. »Großer Han, Herr der Sonne und der Sterne, höre mich an: Morgen werden wir dir vier Hände Pferde opfern, zum Dank, weil du unseren Kundschaftern scharfe Augen verliehen hast. Wenn die Erde ihr Blut aufgenommen hat, werden wir unser Lager abbrechen, nach Shara reiten, es in Schutt und Asche legen und dir unseren Großen Häuptling zurückbringen! «
Ein lautes Geheul erschallte um ihn herum, als die Krieger den Kopf zurückwarfen und den Hansi-Schlachtruf ausstießen. Die Trommler stimmten einen ohrenbetäubenden Trommelwirbel an, und wieder vibrierte die Steppe, bis sogar das gestirnte Firmament zu zittern schien.
Während Vlahan und seine Krieger sich aufmachten gen Süden, galoppierten Marrah, Hiknak und Dalish in Richtung Shara. Die Frauen wußten, sie ritten mit den Nomaden um die Wette; aber sie hatten keine Möglichkeit abzuschätzen, wie knapp das Rennen sein würde. Sie legten nur gerade lange genug Rast ein, um kalte Mahlzeiten zu sich zu nehmen, ein wenig Schlaf zu bekommen und ihre Pferde ausruhen zu lassen. Dennoch trieb die Bedrohung der bevorstehenden Invasion sie zu immer größerer Eile an.
Vielleicht hatten Vlahans Männer inzwischen Shambah erreicht und es ein zweites Mal niedergebrannt; vielleicht hatten sie diese erste Stadt umgangen und waren augenblicklich dabei, den Rauchfluß zu überqueren. Oder vielleicht (o heilige Göttin, bitte laß es nicht wahr sein!) lag auch Shara schon in Trümmern.
Keine von ihnen hatte das Bedürfnis zu sprechen, aber sie ritten Seite an Seite, wann immer sie konnten, und schöpften Mut aus dem Anblick der anderen. Sie wußten, sie konnten jederzeit aus dem Hinterhalt überfallen werden, und nachts standen sie abwechselnd Wache. Hiknak ließ Marrah keine Sekunde aus den Augen, und wenn eine von ihnen davonwanderte, um ihren Wasserschlauch in einem Fluß zu füllen oder einen Armvoll Feuerholz zu sammeln, begleiteten die anderen sie.
Als die Tage vergingen, ohne daß eine Spur von den Nomaden auftauchte, ließ ihre Anspannung nach. Die Bewohner der Dörfer entlang ihrer Route hatten nichts von einem großen Verband von Männern zu Pferd gehört; das Wetter war milde, mit warmen Tagen und langen, goldenen Abenden. Manchmal sahen sie Storchennester, häufig Wild. Bei Sonnenuntergang schien das schwindende Licht die hohen Bäume mit einem weichen Schleier einzuhüllen, und wenn Marrah Wache hielt, vernahm sie höchstens das Rascheln von Blättern oder den gelegentlichen Ruf einer Eule.
Sie versuchte, soviel Trost wie möglich aus der Unberührtheit und Stille der Landschaft zu schöpfen; doch zuckte sie jedesmal zusammen, wenn nur ein Zweig knackte, und sie legte ihr Messer kaum jemals aus der Hand, nicht einmal im Schlaf. Oft lag sie stundenlang wach und starrte in den Nachthimmel hinauf. Die Sterne leuchteten besonders hell in diesem Sommer, doch sie nahm sie kaum wahr. Statt dessen sah sie nur die Schwärze zwischen ihnen, und manchmal war ihr zumute, als fiele sie aufwärts in ein finsteres Loch, so einsam, daß keiner sie jemals finden würde.
Wenn sie beim besten Willen nicht einschlafen konnte, erhob sie sich leise und entfernte sich ein Stück von den anderen, hängte ihr Netz an einem Busch auf und flüsterte die Namen der Dunklen Göttin – doch sie war zu tief betrübt, um in Trance zu versinken.
Es gab keinen Frieden in ihrer Seele, keinen Ort in ihrem Inneren, wo Kummer und Schmerz nicht hingelangt waren; deshalb blieb das Netz nichts weiter als ein Netz, und mehr als einmal, wenn sie sich resigniert daranmachte, das Netz wieder zu lösen, mußte sie Stücke von Blättern
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