Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
und abgeknickten Zweigen aus den feinen Fäden herausklauben. Einmal fand sie sogar eine kleine weiße Maus, die strampelnd versuchte, sich aus den Schlingen zu befreien. Marrah faßte es als ein schlechtes Vorzeichen auf!
Sie hätte alles dafür gegeben, in die Zukunft sehen zu können, denn nachdem Stavan jetzt tot war, konzentrierten sich ihre Ängste in erster Linie auf Luma und das, was ihr zustoßen könnte, falls Vlahan vor ihnen in Shara eintraf.
Luma war jetzt fünf, und wenn die Nomaden die Stadt überfielen, würde sie keine Chance haben. Wäre sie ein Junge, dann übergäbe irgendein kinderloser Krieger den Kleinen vielleicht seiner Ehefrau, um ihn aufzuziehen; aber das Beste, worauf ein kleines Mädchen mit dunklem Haar und dunklen Augen hoffen konnte, war ein barmherzig schneller Tod.
Die Vorstellung, sowohl Keru als auch Luma zu verlieren, war so entsetzlich, daß Marrah ihr Bestes tat, sie zu verdrängen; doch während ihres Rittes nach Süden ließ der schreckliche Gedanke, zu spät zu kommen zur Rettung ihrer Tochter, sie keinen Augenblick los und hetzte sie erbarmungslos vorwärts. Wenn nur Stavan dagewesen wäre, dann hätte er ihr vielleicht sagen können, wie schnell ein Nomadenkriegertrupp sich vorwärts bewegte – aber Stavan war tot, und ganz gleich, wie sehr sie sich nach Hilfe und Trost von ihm sehnte, wußte sie, daß er ihr niemals mehr zur Seite stehen konnte.
Sie vermißte ihn ständig. Sein Tod war ihr erster Gedanke, wenn sie morgens aufwachte, und ihr letzter, wenn sie sich abends schlafen legte. Bevor er starb, waren sie viele Monate getrennt gewesen, aber sie hatte seine Gegenwart dennoch immer gespürt.
Jetzt fühlte sie, wie die Distanz zwischen ihnen größer und größer wurde wie ein dunkles Tal ohne Ende. Wenn sie Reiher sah, erinnerte sie sich daran, mit wieviel Freude er die langbeinigen Vögel beobachtet hatte, während sie durch das Schilf staksten und Jagd auf Fische machten; und wenn sie an Luma dachte, erinnerte sie sich daran, daß nur Stavan es vermocht hatte, das Kind in den Schlaf zu singen, wenn es krank und unruhig war. Sie vergegenwärtigte sich seine Stimme und die Berührung seiner Hände, den Duft seines Haares, den zärtlichen Druck seiner Lippen, den warmen Klang seines Lachens.
Dutzendmal am Tag fiel ihr etwas ein, das sie ihm gern erzählt hätte. Es gab Scherze, die nur er verstanden hätte, Gedanken, die zu intim waren, um sie jemand anderem anzuvertrauen. Stavan war ihr Liebhaber gewesen, der Aita ihrer Kinder und ihr bester Freund – seinen Verlust ertrug sie nur deshalb, weil sie keine andere Wahl hatte. Sie hätte Felsen mit bloßen Händen entzweigebrochen und wäre barfuß über glühende Kohlen gelaufen, wenn sie ihn damit ins Leben hätte zurückholen können; aber sie träumte jetzt nie mehr von ihm – statt dessen erfüllten sie undurchdringliche Finsternis und ungebrochenes Schweigen ... was sie mehr als alles andere davon überzeugte, daß er wirklich tot war.
Oft ertappte sie sich dabei, wie sie verzweifelt schluchzte, und dann ritt sie weiter, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Tränen abzuwischen. Dalish und Hiknak verstanden ihre Trauer und respektierten sie; jederzeit hätte sie sich trostsuchend an sie wenden können, aber Marrah klammerte sich hartnäckig an ihren Schmerz und weigerte sich, ihn zur Sprache zu bringen.
Der Schmerz war alles, was ihr von Stavan noch geblieben war, und daher ließ sie nicht davon ab, preßte ihn an sich wie einen Umhang aus Dornen. Je furchtbarer sie litt, desto weniger sprach sie über ihr Leid – Stavans Tod war der größte Verlust ihres Lebens, und mit jedem Tag, der verging, vermißte sie ihn schmerzlicher..
Knapp zwei Wochen, nachdem sie von Kataka aufgebrochen waren, erreichten sie Shara, um es völlig verlassen vorzufinden. Nicht einmal ein Hund kam herbeigelaufen, um sie zu begrüßen, und als Marrah Nretsa durch die leeren Straßen lenkte, spürte sie, wie eine allzu vertraute Angst in ihr hochkroch – obwohl sie sich überzeugen konnte, daß ihre Freunde und Verwandten wohlauf waren, indem sie einfach zu den Klippen hinaufschaute.
Der Tempel der Kinderträume stand nicht mehr allein auf dem Felsvorsprung. Zelte aus Ziegen- und Schafshäuten drängten sich jetzt um das Gebäude, und kleine, dunkle Gestalten bewegten sich vor dem Hintergrund aus honigfarbenem Gestein. Hier und dort stieg Rauch von Kochfeuern kerzengerade in die unbewegte Luft und trieb langsam hinaus auf den
Weitere Kostenlose Bücher