Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Wort für diesen Blick: Vartak. Vartak war der Wahnsinn der Götter, der einen Mann in der Schlacht überkam.
Vlahan hob den Arm und zeigte auf den Pfad. »Bringt mir Köpfe! « brüllte er. »Bringt mir die Köpfe dieser feigen Bastarde! « Beim Klang seiner Stimme schien der Wahnsinn von ihm auf seine Krieger überzuspringen. Innerhalb von Sekunden waren sie alle vartak. Sie schüttelten ihre Speere und schrien, was das Zeug hielt; Blut füllte ihre Lippen, und ihre Augen glänzten.
»Vlahan! Vlahan! Sohn von Han!«
Die Unterhäuptlinge stürmten den Pfad hinauf mit ihren Männern im Gefolge, während sie sich gegenseitig schubsten und drängelten, um als erster oben anzukommen. Der Pfad war abgeschnitten, was sie von unten jedoch nicht sehen konnten, und selbst wenn sie es gesehen hätten, hätte es sie wahrscheinlich nicht aufgehalten. In blinder Ekstase hetzten sie aufwärts und heulten dabei wie Wölfe.
Ihr blutgieriges Gejohle verursachte Marrah eine Gänsehaut. Sie grub ihre Fingernägel in ihre Handflächen, und zum ersten Mal seit Shambah fühlte sie wieder das lähmende Grauen angesichts eines Hansi-Überfalls. Keiner auf den Klippen sang mehr.
Die Krieger strömten in unglaublicher Geschwindigkeit den Pfad herauf. Sie waren stärker und geschickter, als Marrah jemals geahnt hätte. Einige verließen den Pfad, kletterten direkt von Krümmung zu Krümmung, zogen sich an den glatten Wänden hoch und schwangen sich über riesige Felsbrocken, ohne ihr Tempo zu drosseln, während sie ihre Zehen in fast unsichtbare Spalten hakten und sich mit den Händen an Vorsprüngen festklammerten, die selbst Marrah nicht erkennen konnte.
»Macht euch bereit zu schießen!« rief sie den Jägern zu, doch ihre Anweisung war überflüssig. Inzwischen stürmte der erste Krieger auf die klaffende Spalte im Pfad zu und wäre beinahe hineingestürzt. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig halten, indem er bei einem Vorsprung bremste.
»Zurück!« schrie er seinen Kameraden in gutturalem Hansi zu und fuchtelte wild mit den Armen. »Bleibt stehen!«
Der Schlachtruf erstarb auf seinen Lippen. Etliche Krieger rüccten vor und inspizierten das Loch, einer spuckte zornig über den Rand. Als sich die Nachricht herumsprach, daß der Pfad abgeschnitten war, verlangsamten die Männer ihr Tempo. Ein paar blieben ganz stehen, stützten sich mit dem Rücken gegen Felsen und begannen, auf die sharanischen Jäger zu zielen; aber die Jäger krochen rückwärts außer Schußweite, und die meisten der schweren, mit scharfen Feuersteinspitzen bewehrten Pfeile der Nomaden zischten ungewiß durch die Luft, ohne Schaden anzurichten.
Als die Sharaner sahen, daß ihre Jäger in Sicherheit waren, jubelten sie voller Freude. Marrah dachte daran, den Befehl zum Schießen zu wiederholen; doch es widerstrebte ihr, den Jägern zu befehlen, sich über den Rand des Vorsprungs zu beugen, wo sie Gefahr liefen, von den feindlichen Pfeilen durchbohrt zu werden. Noch bevor sie sich entscheiden konnte, nahm ihr einer der Hansi-Krieger die Entscheidung ab. Blitzschnell entrollte er ein Seil und warf es so geschickt über die Lücke, daß sich die Schlinge um einen dürren Baum legte.
Kein Sharaner hatte dem Baum irgendwelche Beachtung geschenkt; keiner hatte jemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet, doch er wuchs direkt oberhalb der Spalte im Pfad, und sobald Marrah das Seil fliegen sah, wußte sie mit furchterregender Gewißheit, was als nächstes passieren würde.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Schlinge hielt, lief der Krieger ein Stück den Pfad zurück, hielt einen winzigen Moment inne und rannte dann vorwärts, um zum Sprung anzusetzen. Bis Marrah ihren Jägern den Schießbefehl erteilen konnte, war es fast schon zu spät. Der Namade flog bereits durch die Luft, hangelte sich an dem Seil zur anderen Seite hinüber, und in der Sekunde, in der er wieder festen Halt unter den Füßen fände, würde er das Seil seinen Kameraden hinüberwerfen – damit gäbe es für die Invasion kein Halten mehr.
In jenem Augenblick, als das Leben jedes einzelnen Bewohners von Shara auf dem Spiel stand, retteten die Jäger die Stadt. Mit inbrünstigen »Batal!«-Rufen beugten sie sich über den Felsvorsprung, schossen auf den Vorkämpfer und ließen ihn kopfüber in die Spalte abstürzen. Die Nomadenbogenschützen zielten auf die Jäger, und einige von ihnen wären ganz sicherlich den feindlichen Pfeilen zum Opfer gefallen, wenn nicht jetzt auch der
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