Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
krächzende Tschack einer weißkehligen Grasmücke nach.
»Ich soll zu dir kommen.«
»Wirst du immer zu mir kommen, Keru?«
»Ja.«
»Und wirst du immer tun, was ich dir sage?«
»Ja.«
»Warum wirst du immer zu mir kommen, kleiner Häuptling? Warum wirst du immer tun, was ich dir sage? «
»Weil ich dich liebhabe«, flüsterte Keru träumerisch.
»Sag es noch einmal.«
»Weil ich dich liebhabe, Onkel Changar.«
An dem Tag nach dem ersten Nomadenüberfall stieg die Sonne durch Nebelschleier auf, und der Himmel kündete von Regen. Den ganzen Morgen über standen die Sharaner oben am Rand des Felsvorsprungs und warteten darauf, daß die Krieger erneut angriffen, aber die Hansi-Trommeln schwiegen.
Unten im Nomadenlager schien das Leben seinen gewohnten Gang zu gehen. Nirgendwo waren Krieger in Sicht, aber die Sharaner konnten dunkel gekleidete Frauen neben den Milchstuten hocken sehen. Andere sammelten Pferdeäpfel ein oder kochten, während wieder andere durch die Ruinen von Shara schlenderten und müßig in der Asche stocherten auf der Suche nach Dingen, die vielleicht von den Flammen verschont geblieben waren.
Nomadenkinder spielten zwischen den Zelten, kreischten mit hohen Stimmen, die den ganzen Weg über das Tal hinwegschallten. Gelegentlich bellte ein Hund, aber im übrigen war es so ruhig, daß Marrah – wüßte sie nichts von den Zelten voller bewaffneter Krieger – auf die Idee hätte verfallen können, die Nomaden wären Pilger, die Shara besuchten wegen der heißen Quellen.
Gegen Mittag verließ ein einzelner Reiter das Lager. Am Fuße der Klippen zügelte er sein Pferd und blieb eine Weile im Sattel sitzen, um sich mit den Nomadenwachtposten zu beraten. Dann schwang er sich von seinem Pferd und begann, mit langsamer, gemessener Arroganz den Pfad hinaufzusteigen.
Der große Mann trug eine feine weiße Tunika, die ihn als Unterhäuptling von einiger Wichtigkeit auswies, und als er näherkam,
konnten die Sharaner sehen, daß sein Gesicht abwechselnd mit Streifen schwarzer, roter und gelber Farbe bemalt war.
Marrah wandte sich zu Hiknak um, die den Ankömmling aufmerksam beobachtete, während er sich einen Weg zwischen den Felsblöcken hindurch bahnte. »Wieso begibt er sich ganz allein herauf?« fragte sie. »Was hat das zu bedeuten? Soll ich den Jägern befehlen, auf ihn zu schießen, was meinst du?«
Hiknak riet ihr, erst einmal abzuwarten, um zu sehen, was der Mann wollte; denn die Linien auf seinem Gesicht bedeuteten, daß er ein Bote war. Arang bestätigte dies, und so warteten sie schweigend. Der Mann fuhr unbeirrt fort, den Pfad hinaufzuklettern, hielt nur ab und zu inne, um zu den Gesichtern hochzuspähen, die auf ihn herabstarrten; sollte er auch Angst haben, von oben beschossen zu werden, so gab er sich dennoch völlig gefaßt.
Schließlich kam er zu der klaffenden Spalte im Pfad. Der Baum stand inzwischen nicht mehr da; er war bei Nacht gefällt und ausgegraben worden, damit kein Nomadenkrieger jemals wieder sein Seil darumschlingen konnte; aber falls der Bote das Fehlen des Baumes bemerkte, so äußerte er auch diesmal kein Zeichen von Unruhe. Er legte die Hände trichterförmig an den Mund, beugte sich zurück und begann mit lauter Stimme zu sprechen, die von den Felswänden widerhallte.
»Marrah von Shara, höre! Marrah von Shara, Hexe des Südens, bist du da?«
Marrah beugte sich über den Vorsprung, damit er sie sehen konnte. »Hier stehe ich«, rief sie auf hansi. »Und ich bin keine Hexe, sondern die Kriegskönigin dieser Stadt und eine Priesterin der Göttin Erde. Was willst du?«
Der Bote reckte den Hals und musterte sie ausdruckslos. »Vlahan der Große hat mich geschickt, um dir Folgendes auszurichten: Sag Marrah, der Hexe, wenn sie mir Arang gibt, Enkel von Zuhan, den sie gefangenhält, dann werde ich ihr ihren Sohn, Keru, dafür austauschen. Und meine Krieger werden abziehen und ihr Volk verschonen.«
Arang im Austausch für Keru! Für wie dumm hielt dieser Vlahan sie eigentlich? Marrah wußte, daß Vlahan ihr niemals ihren Sohn zurückgeben würde, und wenn sie so töricht wäre, ihm Arang auszuliefern, würde er Keru dennoch behalten und sie alle töten. Dies war kein echtes Angebot; es war eine Gemeinheit.
Sie drehte sich zu den Jägern um: »Vlahan will eine Antwort« und wies auf ihre Bögen. »Gebt ihm eine, aber verwundet den Boten nicht.« Fast noch bevor die Worte aus ihrem Mund waren, schossen die Jäger. Eine Wolke von Pfeilen sirrte durch die
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