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Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin

Titel: Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Luft, zischend wie Schlangen. Sie flogen so dicht an dem Boten vorbei, daß sich einer durch den Ärmel seiner Tunika bohrte und ein anderer das Haar auf seinem Kopf zu teilen schien. Die verschossenen Pfeile landeten klappernd auf dem felsigen Boden.
    »Da hast du unseren Bescheid!« rief Marrah. »Sag Vlahan, daß die Leute von Shara mit Pfeilen auf Gemeinheiten antworten! «
    Der Bote machte kehrt und floh den Pfad hinunter. Es war ein bitterer Triumph für Marrah, weil Vlahan noch immer Keru in seiner Gewalt hatte; aber dennoch war es ein Triumph. Wenn Vlahan glaubte, er könne sie durch Erpressung und Folter zur Kapitulation zwingen, weil sie eine Mutter war, dann sollte er lieber noch einmal gründlich nachdenken.
    Sie war gerade im Begriff, sich abzuwenden und den Jägern zu gratulieren, als sie eine vertraute Stimme vernahm.
    »Mama! «
    Hinter ihr entstand Unruhe. »Marrah, sieh doch! « schrie Arang. »Da ist ...« Er mußte den Namen gesagt haben, aber sie hörte ihn nicht, weil sie sich bereits umgedreht hatte, um hinunterzuschauen, und was sie sah, ließ ihr Herz einen Schlag lang aussetzen.
    Während sie die ganze Zeit den Boten im Auge behalten hatte, war Changar unbemerkt zum Fuß der Klippen geritten. Er saß auf einem braunen Hengst, nackt bis zur Taille, das Gesicht mit goldener Farbe bemalt, das Haar mit dem leuchtend roten Ocker bestäubt, mit dem die Hansi gewöhnlich die Körper ihrer Toten besprenkelten. In seinen Armen hielt er einen kleinen Jungen, den man wie eine Opfergabe ganz in Weiß gekleidet hatte.
    »Mama! « rief Keru. Er war in der Zwischenzeit gewachsen, doch seine Stimme hatte sich nicht verändert; als sie an ihr Ohr drang, vergaß Marrah beinahe, daß sie eine Königin war und Würde bewahren mußte.
    Es war über ein Jahr her, seit sie Keru das letzte Mal gesehen hatte; die Nomaden hatten Symbole in seine Wangen tätowiert und ihm die Ohrläppchen durchstochen, wie es bei ihnen üblich war; aber er war und blieb ihr kleiner Junge, ihr Kind, ihr Liebling, und sein bloßer Anblick, ihn gesund und wohlbehalten vorzufinden, machte sie fast schwindlig vor Erleichterung. Ihr erster Impuls war, zu ihm zu laufen, und dann erkannte sie mit erschütternder Klarheit, daß sie es nicht durfte.
    »Marrah«, rief Changar zu ihr hinauf. »Schau deinen Sohn an; sieh, wie stramm er gewachsen ist; sieh, wie gut wir für ihn gesorgt haben. Gib uns Arang, und du kannst ihn zurückhaben.« Plötzlich hob er Keru über seinen Kopf und schüttelte ihn wie einen Welpen.
    »Mama!« schrie Keru gellend. »Hilf mir!«
    Sie mußte siebenundzwanzig Kinder schützen; sie war Kriegskönigin von Shara; ein falsches Wort von ihr, eine einzige Andeutung von Schwäche, und Vlahan würde niemals abziehen. Er würde den ganzen Winter über am Fuß der Klippen lagern, bis die Sharaner nichts mehr zu essen hatten; er würde sie aushungern und wieder und wieder angreifen, bis alle ihre Pfeile aufgebraucht waren und ihnen keine andere Wahl blieb, als sich zu ergeben. Marrah kannte Vlahans Denkungsweise. Sie war seine Ehefrau gewesen, hatte ihn tagtäglich erlebt.
    Changar schüttelte Keru erneut. »Wir wollen Arang, Enkelsohn von Zuhan. Gib ihn uns, und du bekommst Keru zurück! «
    Marrah stand reglos da, die Arme vor der Brust verschränkt, und sie zwang sich mit aller Kraft, eine ausdruckslose Miene beizubehalten wie ein leerer Himmel, während Changar fortfuhr, Keru zu schütteln. Und bei jedem Schrei, den ihr kleiner Junge ausstieß, durchzuckte sie ein derart heftiger, unerträglicher Schmerz, daß sie am liebsten selbst geschrien hätte, bis die Klippen eingestürzt wären. Ihr war zumute, als würde sie bei lebendigem Leibe in Stücke gerissen – dennoch vergaß sie keine Sekunde lang die Leute von Shara und jene siebenundzwanzig Kinder, deren Schicksal in ihren Händen lag.
    Schließlich hörte Keru auf zu schreien und erschlaffte in Changars Armen. Changar warf den Jungen quer über den Hals seines Pferdes und ließ es sich tänzelnd im Kreis herum bewegen, damit Marrah einen freien Blick auf ihren Sohn werfen konnte. »Du bist eine eiskalte, herzlose Hexe«, rief er. Dann zerrte er Keru an den Haaren hoch und ließ ihn wie ein totes Kaninchen in seinen Händen baumeln.
»Noch
ist er am Leben, aber vielleicht werden wir ihn bald Han opfern.«
    Marrah sagte nichts.
    »Gib uns Arang, und du kannst deinem Kind heute abend ein Schlaflied vorsingen. Ich dachte, ihr Sharanerinnen wärt gute Mütter. Was für

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