Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
reflektierte, als ob der Stein im Wasser läge.
Der Grat war offensichtlich die am wenigsten geschützte Stelle rund um den Gipfel, aber jeder Kriegerverband, dem es durch irgendein Wunder gelänge, bis dort oben hinaufzuklettern, würde feststellen, daß sich ein furchterregend steiler Abgrund vor ihm auftat. Die breiten Vorsprünge aus Granit, wo die Sharaner ihre Zelte aufgestellt hatten, lagen ein ganzes Stück weiter zur Linken. Kein Wunder, daß die Kundschafter Vlahan erklärt hatten, er solle sich einen Angriff von der Rückseite her aus dem Kopf schlagen.
Aber den Helden war etwas entgangen, etwas, was Changar letzte Nacht gesehen hatte, als der Geist der Pilze ihm Flügel verlieh. Es war etwas ganz Natürliches, das Männer, die Angst vor Höhen hatten, niemals bemerken würden.
So lange, wie jene Klippen schon standen, so lange hatte es auch immer wieder geregnet. Im Sommer war der Regen die steilen Abhänge hinuntergeflossen und hatte schmale Furchen in den Granit gewaschen; und im Winter war er in den Furchen gefroren und hatte die Felsoberfläche weiter aufklaffen lassen.
Jahr für Jahr waren die Risse breiter geworden, bis die Felsen aussahen, als hätten irgendwelche zornigen Götter, die lange tot waren, mit gigantischen Dolchklingen auf die Abhänge eingestochen.
Als Changar das Werk jener toten Götter betrachtete, verengten sich seine Augen zu Schlitzen, und sein Mund verzog sich zu einem scharfen, wölfischen Lächeln, das Marrah vor Entsetzen hätte schaudern lassen, hätte sie es gesehen.
Es gibt keinen Mann unter den Hansi, der klüger ist als ich, dachte er. Keinen Wahrsager, dessen Visionen wahrer sind. Diese Kundschafter haben keine Augen im Kopf, und Vlahan ist ein ausgemachter Hornochse. Sie hatten recht, als sie ihm erklärten, kein Mensch könne jene nackten Felswände bezwingen, aber ein Mann – ein Draufgänger, einer, der sich nicht gleich vor Angst in die Hose machte bei dem Gedanken abzustürzen –, ein solcher Mann könnte sich mit Händen und Füßen zwischen den Rändern einer jener Felsspalten festklammern und sich Stück für Stück hocharbeiten, bis er den Gipfel erreicht hatte.
Natürlich würde er eine geeignete Spalte brauchen, eine, die nicht unvermittelt aufhörte, sondern bis ganz nach oben reichte. Und gibt es einen solchen Einschnitt? Jawohl, den gibt es! Gleich dort drüben, unter dem Grat.
Triumphierend starrte er auf den Riß. Aus dieser Entfernung war es eine Linie, nicht breiter als ein Haar, aber er war lang und würde schmal genug sein, damit sich ein Mann mühelos an beiden Wänden festhalten konnte. Changar hatte gewußt, daß ein solcher Einschnitt existieren mußte, und da er ihn nunmehr gefunden hatte, würde der Rest einfach sein.
Dennoch überließ er nichts dem Zufall. Er befeuchtete seine Fingerspitze und schätzte die Windstärke ab, berechnete den Untergang der Sonne und stellte sich vor, wie die Schatten bei Mondlicht fallen würden. Lange Zeit überlegte er, wie die Krieger zum Lager der Sharaner hinuntergelangen konnten, sobald sie jenen steilen Grat erreicht hatten – leider wollte ihm keine Möglichkeit einfallen –, doch dann kam eine starke Windbö auf, die die Kiefer beugte, und er sah, daß die Krieger ein Seil um einen Felsblock schlingen und sich hinunterschwingen konnten, bis sie direkt über einer der Windungen des Klippenpfades anlangten. Freilich gehörte eine ganze Portion Mut dazu, den Sprung in die Tiefe zu wagen, aber für ein solches Unternehmen würden ohnehin nur waghalsige Streiter ausgewählt.
Sobald die Krieger erst einmal den Klippenpfad erreicht hätten, würde die Gefahr sogar noch größer sein. Weil der Pfad so schmal war, müßten sie sich einzeln, einer nach dem anderen, hinaufschleichen, um sich oben neu zu formieren. An diesem Punkt wäre das Element der Überraschung von entscheidender Bedeutung, denn wenn die sharanischen Wachtposten die Männer entdeckten, bevor sie geschlossen auf dem Felsvorsprung auftauchten, wären sie zwischen einer steilen Felswand und einem steilen Abgrund gefangen.
Dennoch hatten sie nur einen kurzen Weg zu gehen, um ewigen Ruhm zu gewinnen. Versagten sie, würden sie sterben in treuer Pflichterfüllung gegen ihren Häuptling, auf welche Weise übrigens alle Männer – außer Wahrsagern – sterben sollten.
Der Wind drehte, und jetzt konnte Changar den Rauch der sharanischen Feuer riechen. Sie kochten auf der anderen Seite der schroffen Klippen. Er stellte sich vor, wie
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